Ein echter Knochenjob

Kompliziert gebrochene Knochen werden bisher mit langen Nägeln geheilt. In Leipzig wird an einer eleganteren Lösung gearbeitet: Gerüsten aus dem 3-D-Drucker

Die massiven Marknägel sind ein Auslauf­modell. Das netzartige Gerüst aus weißem Plastik ist die Zukunft. Es überbrückt die Bruchstelle und stützt das Wachstum von neuem Knochen Fotos: BellaSeno

Aus Leipzig Luisa Faust

Als Bei­fah­re­r*in im Auto kann man viel falsch machen: unkonzentriert navigieren, die falsche Musik spielen und, der wohl der fatalste Fehler, die Knie angewinkelt ans Armaturenbrett lehnen. Bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn wirkt viel Kraft von hinten, und in dieser Haltung „ist der Oberschenkelknochen durch“, sagt Tobias Großner.

Der Unfallchirurg aus Heidelberg hat unzählige solcher Brüche behandelt, indem er einen Marknagel aus Titan in den Knochen bohrte, so lang wie der Oberschenkel selbst, oder indem er die Knochenfragmente mit einer langen Platte und Schrauben stabilisierte. Teile, die auch nach der Heilung im Körper der ­Pa­ti­en­t*in­nen bleiben und sich manchmal noch nach Jahren entzünden, zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen können. Manchmal heilt die Bruchstelle trotz der Stabilisierung nicht und eine Lücke zwischen den Bruchteilen bleibt. Oft stand ­Großner im Operationssaal und hat sich gefragt, ob es nicht eine bessere Lösung gibt.

Auf der Suche danach stieß er vor drei Jahren zu BellaSeno, einem australischen Unternehmen, das Medizinprodukte im 3-D-Drucker herstellt. Gemeinsam entwickelten sie eine neue Idee: individualisierte Ersatzstücke, genau an die Knochenlücke der Pa­ti­en­t*in­nen angepasst. Im Körper eingesetzt, werden sie mit Knochenmark gefüllt. Aus den Zellen des Knochenmarks bildet sich neuer Knochen. Das dauert manchmal nur Monate, manchmal Jahre. Gestützt und geleitet wird dieses Wachstum durch das Gerüst aus dem 3-D-Drucker.

Die Gerüste bestehen aus einem Kunststoff, das sich im Körper langsam auflöst und schließlich, wenn es seine Aufgabe erfüllt hat, ganz verschwindet. Das im Gerüst neu gewachsene Stück Knochen wird letztendlich kaum vom Originalknochen zu unterscheiden sein. Das ist eine kleine Revolution. Die Bruchlücke wird genau von dem Material geschlossen, das dafür am besten geeignet ist: dem Knochengewebe der Patient*innen.

Die Firma BellaSeno hat ihren Hauptsitz in der BioCity in Leipzig, einem der modernsten und größten Biotechnologie-Parks in Deutschland. Auf zwei Etagen sind die Büros und die 3-D-Drucker des Unternehmens untergebracht. Im mit grauem Büroteppich ausgelegten Showroom werden die gedruckten Knochengerüste auf einem Podest präsentiert. Scaffolds nennen Me­di­zi­ne­r*in­nen diese Teile. Bei den Gebilden aus weißem Plastik erkennt man schnell, wo sie im Körper hingehören, ein etwa 12 Zentimeter langes Stück Unterschenkel und die Speiche eines Unterarms liegen dort.

Chirurgische Lösungen müssten simpel sein, damit sie im Tagesgebrauch einsetzbar sind, meint Tobias Großner: „Im Operationssaal brauchen wir ein Produkt, das jeder versteht. Du musst die Verpackung aufmachen und sofort wissen, wo es hingehört.“ Nur drei Jahre vergingen von den ersten Versuchen mit den Scaffolds für die Knochenheilung aus den 3-D-Druckern, bis das Produkt in Europa zugelassen wurde. Zuvor hatte BellaSeno allerdings schon jahrelang an der 3-D-Druck-Technik getüftelt. Und dass „Scaffolds für die Knochenheilung wichtig sind, das wissen wir schon seit dreißig bis vierzig Jahren“, sagt Großner. „Wir haben hier in Leipzig den Brückenschlag gemacht: 3-D-Druck, Scaffolds und Knochenregeneration. Das ist neu.“

Eine Etage unter dem Showroom stehen zwei 3-D-Drucker hinter einer Glasscheibe. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, von der Decke leuchten helle Lichtröhren. Das hier ist ein Reinraum, noch steriler als ein Operationssaal. Betreten darf man ihn erst, wenn der Druckvorgang abgeschlossen ist, und ausschließlich in Schutzmontur. Aus einem der beiden Drucker erklingt ein leises rhythmisches Zischen, in seinem Inneren bewegt sich der Druckkopf langsam vor und zurück, nach und nach schichtet er ein weißes Gebilde auf. Für ein 12 Zentimeter langes Stück Unterschenkelknochen braucht der Drucker ungefähr acht Stunden.

Im Körper zersetzen sich die Gerüste mit der Zeit und lösen sich schließlich auf

Etwa fünfzig Pa­ti­en­t*in­nen tragen inzwischen ein Scaffold aus den beiden Druckern hinter der Glasscheibe in sich. Eingesetzt wurden sie bisher an vier hochspezialisierten Kliniken. Einer der ersten Patienten ist auch einer der spektakulärsten Fälle, sein Röntgenbild hängt im Showroom an der Wand: Es zeigt den Unterarm eines ukrainischen Zivilisten, der von einem Projektil getroffen wurde. Der Mann verlor dabei die Speiche, in seinem Unterarm war nur noch die Elle übrig. Der verlorene Knochen wurde in der Medizinischen Hochschule Hannover durch ein Gerüst aus Leipzig ersetzt. Inzwischen kann der Mann seinen Unterarm wieder bewegen, den Ellbogen beugen und seine Hand benutzen. Seit einem halben Jahr bildet sich in seinem Körper neuer Knochen.

Im Versuchsraum holt Großner aus einem Kühlschrank den Kunststoff, aus dem auch das Gerüst für die Speiche gedruckt wurde. Die weißen kristallinen Kunststoffflocken sehen so aus wie Kokosraspel und bestehen aus einem Material, das in der Medizin schon seit gut 90 Jahren bekannt ist: Polycaprolacton (PCL). Ursprünglich wurde der Stoff für die Fäden zum Nähen von Schnitten entwickelt. Wenn das Plastik mit Feuchtigkeit in Berührung kommt, löst es sich langsam auf. So wie diese Fäden nicht gezogen werden müssen, bauen sich auch die Scaffolds im Körper langsam ab.

Hinter Glas: Wo Ersatzteile für den Körper gedruckt werden, muss es steriler sein als auf einem OP-Tisch

Im Showroom ist auch ein Produkt ausgestellt, das noch auf die Marktzulassung wartet, aber viel Geld verspricht: Scaffolds für die Brustrekonstruktion, ebenfalls aus PCL. Statt mit Knochenmark wird das Brustgerüst im Körper der Pa­ti­en­t*in­nen mit Fettzellen gefüllt, die an einer anderen Körperstelle entnommen wurden. Genau wie bei den Scaffolds für gebrochene Knochen löst sich das Brustgerüst irgendwann auf, und der Körper schließt die Fettzellen an den Blutkreislauf an. Das Fettgewebe wächst, bis es den Raum ausfüllt, den das Scaffold vorgegeben hat.

Bis zum ersten Prototyp musste BellaSeno die 3-D-Druck­technik in vielen Schritten anpassen. „Das Plastik, mit dem wir drucken, ist hart, aber eine Brust muss sich ja weich und flexibel anfühlen“, sagt Großner. Die 3-D-Drucker müssen deswegen so fein drucken, dass eine bewegliche Struktur entsteht.

Erste Studien laufen, die Gerüstbrüste sollen zunächst für Menschen auf den Markt kommen, die ihre Silikonimplantate ersetzen wollen, etwa weil sie gerissen sind oder ihr Körper sie abwehrt. Übrig bleiben soll dann eine Brust, die sich kaum von einer natürlich gewachsenen unterscheidet. Wenn das wirklich klappt, könnten die Knochenbrüche für das Unternehmen irgendwann eine Nebensache werden.