Positionierung als Underdog

Organisatorisch gleicht sich die AfD den demokratischen Parteien an – sie ist kein Chaoshaufen mehr. Machtpolitisch gesehen ist sie aber zunehmend isoliert

Illustration: Katja Gendikova

Von Wolfgang Schroeder

Im Jahr 2015 wählte die AfD in Essen in einer dramatischen Saalschlacht ihr Profil als euroskeptische Professorenpartei ab. Damals wurde der Weg geebnet hin zu einer rassistischen Partei der Migrationsverhinderer, die nur bei ihrer Radikalisierung gegen die liberale Demokratie keine Grenzen kennt. Nun, neun Jahre später, wurde am vergangenen Wochenende am selben Ort wieder ein neues Kapitel aufgeschlagen. Diesmal nicht auf dem Feld der Programmatik, sondern dem der Organisation. Vorbei ist die Zeit, als sich die AfD als gäriger, anar­chi­scher Haufen präsentierte. Stattdessen zeigt sie sich als gelehriger Schüler der von ihr so genannten Altparteien. Inszenierte Geschlossenheit, Absprachen in Hinterzimmern, rationales Wählen und keine inhaltlich-strategischen Debatten über den zukünftigen Kurs der Partei prägten ihren Parteitag.

Auf jedem Parteitag gibt es eine Bühne und das Treiben hinter dem Vorhang. Die Veränderung zeigte sich auf der Bühne. Hier hat die Parteitagsregie effizient gearbeitet. Auf ebendieser Ebene hat sich die AfD „altparteiisiert“. Konflikte wurden in Essen nicht mehr öffentlich ausgetragen. Und wo sich nur kleine Streitigkeiten andeuteten, wurden sie freundlich verpackt. Vorbei ist die Zeit, als man Vorsitzende mit schlechten Ergebnissen abstrafte. Alice Weidel erhielt knapp 80 Prozent im Vergleich zu einst 67, Chrupalla kam sogar von 53 auf nun 83 Prozent. Ebenfalls vorbei scheint die Zeit der direktdemokratischen Initiativen aus der Mitte der Partei. Sie sind dieses Mal weitestgehend ausgeblieben. Stattdessen tritt die AfD in inszenierter Geschlossenheit professionell auf, was sich auch inhaltlich ausdrückt. Entgegengesetzte Meinungen wurden im Vorfeld des Parteitags „harmonisiert“. Kontroverse Posi­tio­nen, etwa der Vorstoß, einen Generalsekretär einzusetzen, wurden an die Satzungskommission verwiesen.

Hinter den Kulissen fand gleichwohl eine Debatte über den Kurs der AfD statt. Im Gegensatz zu früher wurden diese Streitfragen nicht im Plenum ausgetragen. Weil die radikalen Kräfte die Partei gegenwärtig fest im Griff haben, schweigen die wenigen noch verbliebenen innerparteilichen Gegner und hoffen weiter auf ihre Chancen. Gründe für Diskussionen gäbe es für die AfD eigentlich genug – nicht zuletzt wegen des chaotischen Europawahlkampfs.

Übrigens kann die potenzielle Entwicklung hin zur Mitgliederpartei als ein weiterer Aspekt der „Altparteiisierung“ betrachtet werden. Bisher hat die AfD kaum Wert darauf gelegt, ihre Mitgliederbasis erheblich zu erweitern. Die AfD sah sich als eine professionelle Wähler- und Frak­tions­partei, die von öffentlichen Geldern und privaten Spenden lebt. Gerade vor dem Hintergrund der Erfolge bei der Europawahl und in den ostdeutschen Kommunen war die schwache Mitgliederbasis der AfD, die sich phasenweise sogar verkleinerte, bemerkenswert. Seit einigen Monaten lässt die Parteiführung keine Gelegenheit ungenutzt, um darauf zu verweisen, dass sie sich in einem Wachstumsrausch befinde und geradewegs auf die 50.000 Mitglieder zusteuere. Wie lässt sich dieser Prozess der „Altparteiisierung“ erklären?

Klar ist, der in Essen erkennbare neue Präsentationsmodus der AfD hat sich nicht über Nacht entwickelt. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der sich bei den beiden vorhergehenden Parteitagen abgezeichnet hat. Der Wandel ist eine Reaktion auf die kräftezehrenden und teilweise unübersichtlichen Konfliktdebatten, aber ebenso ein Tribut an die Erfolge an der Wahlurne. Ersteres bedeutet, dass der Konfliktmodus nach innen und außen viel Kraft, Energie und Ressourcen verlangt. Zweiteres, dass mit den Wahlerfolgen steigende Erwartungen der Wäh­le­r geweckt werden, die am Ende auch in Richtung Koalitions- und Regierungsfähigkeit gehen. Beides sind auch Fragen an die innerparteilichen Steuerungsfähigkeit. So artikuliert sich in einer effizienteren organisationalen Aufstellung auch der Wille zur Macht.

Aktuell ist die AfD so erfolgreich wie nie. Doch wird sie davon machtpolitisch kaum profitieren können, solange sie aus ihrer politischen Isolation nicht herauskommt. Zum einen stößt sie bei großen Teilen der Gesellschaft auf starke Ablehnung. Dies zeigte sich auch auf der Straße, etwa in den deutschlandweiten Protesten in Reaktion auf die Correctiv-Recherche über das Potsdamer „Remigrations“-Treffen. Auch die Demonstrationen gegen den Parteitag zeigen, dass die grundsätzliche Bereitschaft, sich gegen die AfD zu positionieren, weiterhin gegeben ist. Während des Parteitags kam es zu massiven Protesten mit bis zu 70.000 Teilnehmern. Diese Ablehnung durch Teile der Gesellschaft wird seitens der AfD als ­Beleg für die Meinungs- und Demokratie­feindlichkeit in Deutschland gewertet. Solange sie eine zunehmende Zahl an Wählern für sich gewinnt, scheint sie der Protest eher zu ermutigen als zu erschrecken. Die viel entscheidendere Isolation ist die machtpolitische. Doch wie entsteht diese?

Ihr Wählerpotenzial zieht die AfD aus ihrer konträren Haltung zu den etablierten Parteien, sei es aus der Haltung zu Russland oder dem Migra­tions­kurs, an den selbst CSU- oder BSW-Politikerinnen und -politiker in der (rechten) Radikalität nicht herankommen. Und selbst wenn sie es täten, die AfD gilt als das Original; die anderen Kräfte ahmen ihre Politik lediglich nach. So ist die Positionierung so fernab von den etablierten Kräften eine Quelle ihres Erfolgs.

Foto: privat

Wolfgang Schroeder, Jahrgang 1960, ist an der Universität Kassel Professor für das politische System der Bundesrepublik. Er hat den Parteitag der AfD vor Ort beobachtet.

Dabei ist sie gleichzeitig gierig nach Positionen, die ihnen ein Alleinstellungsmerkmal ermöglichen. Sei es die Ablehnung der deutschen EU-Mitgliedschaft, der Antimigrationskurs oder die Russlandpositionierung. Diese Alleinstellungsmerkmale aufzugeben würde demnach auch eine Aufgabe der eigenen Partei-DNA bedeuten. Zugleich ist diese Politik der Zuspitzung auch Quelle ihres Misserfolges. Letzteres, indem die Positionen in Deutschland zur Errichtung der sogenannten Brandmauer geführt haben, die auf kommunaler Ebene zwar bereits bröckelt, aber auf Bundes- wie auf Landesebene bislang besteht.

Noch viel problematischer für die AfD ist die EU-Ebene, wo sie von ihren europäischen Schwesterparteien vorgeführt und an den (rechten) Rand gesetzt wurde. Die meisten Rechts-außen-Parteien waren bei den EU-Wahlen erfolgreich. Die Rede ist vom Rechtsruck des EU-Parlaments; gleichwohl sind sie gegenwärtig als Rechts-außen-Kraft im EU-Parlament machtpolitisch irrelevant. Wegen ihrer Zersplitterung in einzelne Fraktionen brauchen die anderen Parteien mit ihnen keine oder kaum Kompromisse einzugehen. Zugleich wird die AfD doppelt an den Rand gedrängt. Nicht nur, dass sich die führenden EU-Rechts-außen-Parteien von der AfD abgrenzen, um herauszustellen, wie sehr sie sich in die Mitte bewegt haben – die Duldung und Unterstützung von Ex­tre­men wie Maximilian Krah oder Björn Höcke führte sogar zum Ausschluss aus der ID-Fraktion.

Die Reaktion der AfD auf ihre selbst verschuldete Außenseiterrolle ist für sie selbst hochproblematisch. Gemäß ihrem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ formuliert sie die Deutung: Nicht die AfD ist zu radikal, sondern die anderen Rechts-außen-Parteien haben sich opportunistisch den vorhandenen Machtverhältnissen in der EU unterworfen. Die Rede ist von der „Melonisierung“ der europäischen Rechts-außen-Parteien, wie AfD-Chef Chrupalla dies nennt. Giorgia Meloni wird mit Ursula von der Leyen verglichen, und zugleich wird damit auch der Austritt aus dem rechten EU-Parteienbündnis namens Identität und Demokratie begründet. Statt sich am Erfolgsweg der Schwesterparteien zu orientieren, geht die AfD einen deutschen Sonderweg.

Solange die AfD bei Wahlen erfolgreich ist, scheinen sie die Proteste gegen sie eher zu ermutigen als zu erschrecken

Auf dem Weg der „Altparteiisierung“ versucht die Partei nach außen geeint, professionell und effizient organisiert zu wirken, da sind öffentlich inszenierte Konflikte eher hinderlich. Neben der neuen organisatorischen Strukturierung, die in Essen deutlich wurde, zeigt dies auch der Umgang mit den öffentlichen Affären. So hatte die Parteiführung ihren beiden Spitzenkandidaten bei der Europawahl nahegelegt, keine öffentlichen Auftritte im Vorfeld der Wahl mehr zu absolvieren. Es wurde also aktiv versucht, Petr Bystron und Maximilian Krah ruhigzustellen. Auch der offi­zielle Umgang mit der „Remigrations“-Konferenz, an der Mitarbeiter des AfD-Spitzenpersonals teilgenommen hatten, bestand in zurückhaltenden Äußerungen.

Die AfD scheint in einem neuen Stadium angekommen zu sein. Sie ist bei Wahlen erfolgreich und organisatorisch effizienter geworden – oder schafft es zumindest immer stärker, dieses Bild nach außen zu tragen. Das zeigte der Parteitag, aber vor allem zeigen das die Wahlergebnisse bei der Europawahl und bei den Kommunalwahlen im Osten Deutschlands. Gleichzeitig verbessert sich ihre machtpolitische Stellung aber nicht. Sie ist weiterhin zu radikal und zu randständig – nicht nur aus Sicht der demokratischen Parteien in Deutschland, sondern auch aus Sicht der führenden rechtsradikalen Schwesterparteien in Europa.

Die bewusste „Antimelonisierung“ könnte die Position des Underdogs zementieren. Man möchte nicht so sein wie die anderen, auch weil die anderen an die Macht wollen, dorthin, wo die „Altparteien“ schon sind. Dies zeigten die Aussagen auf dem Parteitag am Wochenende ganz klar. Aber auch das ist nicht das letzte Wort – schließlich ist die AfD eine Partei der Metamorphosen. Denkt man an ein mögliches Ende des Russlandkriegs oder eine Regierungsbeteiligung des BSW in Ostdeutschland, so gibt es viele neue Kreuzungen, an denen neue Entscheidungen getroffen werden können. Dabei ist das zentrale Problem der AfD nicht ihre organisatorische Aufstellung, sondern die Lernfähigkeit ihres Bodenpersonals. Jedenfalls ist die neue Etappe, die der Parteitag von Essen auf der Ebene der Organisation bedeutet, keine ausreichende Perspektive für eine neue Entwicklung als Partei. Im Gegenteil, organisatorische Professionalisierung ohne ideologische Deradikalisierung ist lediglich more of the same.