: Unter Fallrisiken
Wer entscheidet, was „gesund“ ist? Die Ausstellung „The Myth of Normal“ in Hannover fragt nach dem Wesen und den Rändern der Konvention
Von Bettina Maria Brosowsky
Wenn bald die durchtrainierten Fußballspieler medial dauerpräsent ihre Europameisterschaft, die UEFA Euro 2024 in Deutschland absolvieren, wird mancher und manchem wohl wieder schmerzlich bewusst, wie wenig der eigene Körper der Prämisse sportlicher Optimierung entspricht.
Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: Eine Krankheit will auskuriert werden, eine Beeinträchtigung quält seit Langem die Physis. Wer aber entscheidet eigentlich, was körperlich als „normal“ gilt, als „gesund“? Und wer legt fest, welche Formen von „Therapie“ abweichende Körperlichkeiten über sich ergehen lassen müssen?
Teil des offiziellen Kunst- und Kulturprogramms zum Sport-Großevent, geht eine Ausstellung im hannoverschen Kunstverein noch bis Mitte Juli dem Mythos der Normalität nach. Sie fragt aber auch: Wie weit ist eine Gesellschaft bereit, Abweichungen zu akzeptieren, statt sie zu brandmarken? Einige der 13 beteiligten Künstler:innen sind selbst beeinträchtigt, auch hat Peter Schloss den gesamten Parcours mit einem taktilen Bodenleitsystem strukturiert und in überdimensionierter Braille-, also „Blindenschrift“, Textarbeiten an den Wänden platziert. In einer schönen Umkehrung ist nun also die Mehrheit Sehender und sich normal Orientierender angewiesen auf die Übersetzungshilfe durch die Minderheit der sogenannten Eingeschränkten.
Wie ein Mensch entmündigt, sein Körper zum Ding wird, wenn er sich in die Obhut eines Krankenhauses begeben muss: Das wissen Julischka Stengele und Panteha Abareshi aus eigener Erfahrung. Für Abareshi, geboren 1999 in Montreal mit einer genetisch bedingten Blutkrankheit, sind die Hospital-Plastikarmbänder, auf denen Namen und Befund notiert werden, Ausdruck einer geringschätzenden Objektivierung kranker Körper. Ihr Video zeigt unzählige solcher Bändchen – ergänzt um Hinweise, dass hier „ein Fallrisiko“, „ein Luxus“ oder „ein Pfund Fleisch“ klassifiziert würden.
Stengele, 1982 in Deutschland geboren und in Wien lebend, richtet den Blick aus feministischer Perspektive auf den weiblichen Körper – ein „Allgemeingut“ – und den eigenen, den sie in seiner Mehrgewichtigkeit nicht versteckt. Nur zu oft erfährt sie dafür Anfeindungen. Stengeles wie hingeworfen inszenierte Matratzen-Installation „Ballast/Existenz“ reflektiert zudem einen NS-Terminus, der zur Legitimierung menschenverachtender Eugenik und skrupelloser Euthanasie diente.
Die US-Amerikanerin Emilie L. Gossiaux verlor 2010, als 21-Jährige, durch einen Unfall ihr Augenlicht. Sie absolvierte anschließend ihre Kunststudien, im Alltag ist ihr Assistenzhund elementare Hilfe. Symbiotisch verschmelzen Mensch und Hund in ihren feinen Zeichnungen und Kleinplastiken. Am radikalsten wirkt dabei das „Doggirl“, sphinxartig zwischen Frau und Tier.
Dass sich viel vom derzeitigen physischen und psychischen Leid vermeiden ließe, macht Nikita Kadan aus Kyjiw deutlich: Eine Beinprothese erzählt stellvertretend von einem 29-jährigen Kriegsfreiwilligen, dessen Unterschenkel amputiert werden musste. Zwölf Operationen folgten, immer begleitet von Opiaten, ärztlich verordnet, oder Cannabis, in Selbstmedikation: Er machte Drogenerfahrungen, wie sie, laut der Stimme aus dem Off, mittlerweile zur Normalität gehören – für ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung.
Ausstellung „The Myth of Normal. Vom Können und Gönnen“: bis 14. 7., Kunstverein Hannover
Integrativer Braille-Workshop „How To Do Things With Words“ mit Peter Schloss: Do, 20. 6., 12 Uhr; Do, 4. 7., 12 Uhr;
Rundgang mit Direktor Christoph Platz-Gallus und Simultanübersetzung in Deutscher Gebärdensprache: Fr, 21. 6., 17 Uhr;
Vortrag „Limbmaps, Phantome und das, was Mobilität bedeutet“ von Jennifer Ernst: Mi, 26. 6., 17 Uhr;
Tanz-Performance „Norme Mal!“ mit Manuela Bolegue: Fr + Sa, 12. + 13. 7., 18 Uhr
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