Gesellschaft: Fake News der Polizei
Stuttgart ist das neue Berlin, heißt es nach den Krawallen am 1. Mai. Die Polizei macht Angriffe von Demonstrant:innen für die Ausschreitungen verantwortlich – und nimmt es dabei nicht so genau mit der Wahrheit.
Von Minh SchredleIm
Vorjahr lag es an zwei Rauchtöpfen. Diesmal waren die Seitentransparente zu lang. Zum zweiten Mal in Folge hat die Polizei die „Revolutionäre 1. Mai“-Demo in Stuttgart wegen Auflagenverstößen gestoppt. Wieder berichtet die Polizei von einem Angriff durch Demonstrant:innen, auf den sie mit Pfefferspray und Schlagstöcken reagiert habe. Erneut gibt es viele Verletzte.
In diesem Jahr meldet die Stuttgarter Polizei 167 Festnahmen. Ihre Pressemeldung verschickt sie noch am Abend des Einsatzes, sie wird rasch verbreitet, bundesweit. Demnach habe sich unter den Beteiligten eine vermummte Personengruppe zu einem Block formiert. „Die Banner wurden entgegen der verfügten Auflagen seitlich um die zirka 150 Personen umfassende Gruppe gehalten“, teilt die Polizei mit. „Daraufhin wurde der Aufzug von der Polizei angehalten. Diese musste mittels Lautsprecherdurchsagen mehrfach auf die Einhaltung der von der Versammlungsbehörde erlassenen Auflagen hinweisen. Gleichzeitig griffen die Personen aus der Gruppe heraus unvermittelt die Polizei mit Pfefferspray, mitgeführten Dachlatten mit Schrauben, anderen Schlagwerkzeugen, Schlägen und Tritten an.“ Erst ein „kurzfristiger Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz“ sowie der Einsatz von Polizeipferden und Polizeihunden habe es ermöglicht, „die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen“.
In einer dpa-Meldung vom Folgetag, die zahlreiche Redaktionen aufgreifen, kommt auch die Gegenseite zu Wort: „Die Behauptungen der Polizei entbehren jeglicher Grundlage und dienen einzig dem Zweck, im Nachhinein eine Rechtfertigung für den gewaltsamen Angriff auf die Demonstration zu konstruieren“, wird Kim Northeim, Bündnis-Sprecherin des „Revolutionären 1. Mai“, zitiert. Dabei würden Halterungen von Hochtransparenten und Plakate an Holzlatten zu Angriffswerkzeugen umgedeutet.
So steht Aussage gegen Aussage. Für Cem Özdemir (Grüne) ist klar, wer glaubwürdiger ist: „Mit Nägeln gespickte Latten auf einer Demonstration – geht‘s noch?“, schreibt der Bundeslandwirtschaftsminister am 2. Mai auf X (früher Twitter). Den Beamtinnen und Beamten spricht er „einen großen Dank für ihren Einsatz“ aus und allen verletzten Einsatzkräften wünscht er eine schnelle Genesung.
Das ist in Erfüllung gegangen. In ihrer Pressemitteilung gibt die Polizei an, dass 25 Beamt:innen verletzt wurden. Davon war allerdings niemand dienstunfähig, erklärt ein Sprecher gegenüber Kontext, alle konnten den Einsatz am 1. Mai fortsetzen. Auf der Gegenseite sind es 97 verletzte Demonstrant:innen, die in der Politik trotz Knochenbrüchen nicht auf Mitleid hoffen dürfen. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) meint, wer auf eine Demo gehe, um Gewalt anzuwenden, brauche sich nicht zu wundern, wenn die Polizei die Versammlung konsequent auflöse. Die „Störenfriede“ seien „offensichtlich auf Krawall eingestellt“ gewesen, was er an ihren „präparierten Holzlatten“ festmacht.
Videos widerlegen Polizeiaussagen
Nach Recherchen von Kontext ist allerdings höchst fraglich, ob es diese präparierten Holzlatten wirklich gegeben hat. Die Stuttgarter Polizei kann ihre Existenz auf Anfrage nicht mit Sicherheit bestätigen. So wie nur wenige Angaben aus ihrer Pressemitteilung einer Überprüfung standhalten. Der Redaktion liegt umfangreiches Videomaterial aus mehreren Quellen vor, das das Geschehen am 1. Mai aus verschiedenen Perspektiven abbildet. Daraus ergeben sich erhebliche Zweifel, ob sich die als Tatsachen dargestellten Vorwürfe der Polizei gegen die Demonstrant:innen belegen lassen.
Wie die Minuten vor der Eskalation zeigen, hat es – anders als in der polizeilichen Pressemitteilung als Fakt behauptet – keine Lautsprecherdurchsagen gegeben, die „mehrfach auf die Einhaltung der Demo-Auflagen“ hingewiesen hätten, nachdem der Aufzug angehalten wurde (entsprechend kann es „gleichzeitig“ auch keinen Angriff gegeben haben). Es vergehen überhaupt nur wenige Sekunden, bis die Einsatzkräfte zu Pfefferspray und Schlagstock greifen.
Dass die Demonstrant:innen angefangen hätten, die Polizei mit Pfefferspray und Dachlatten inklusive Schrauben anzugreifen, lässt sich anhand des vorliegenden Materials nicht bestätigen. Was erst mal nichts heißen muss: Krawalle sind in der Regel ein chaotisches Geschehen, das in der Gesamtheit unmöglich zu überblicken ist, und Videoaufnahmen zeigen immer nur einen Ausschnitt.
Fragwürdige Beweismittel
Allerdings ist Pfefferspray eher untypisch für das linksradikale Waffenarsenal. So bestreitet Bündnis-Sprecherin Northeim vehement, dass Demonstrat:innen welches eingesetzt hätten, und meint, wenn sich Einsatzkräfte durch Reizgas verletzt hätten, dann durch den eigenen, übermäßigen Gebrauch. Auf Anfrage von Kontext kann die Polizei diese Variante nicht ausschließen – auch wenn der Pfefferspray-Angriff durch Demonstrant:innen in der Pressemitteilung als Fakt ausgegeben wurde. Ob bei den 167 Festnahmen Pfefferspray sichergestellt worden ist, kann die Polizei nicht beantworten. Insgesamt seien über 100 Gegenstände beschlagnahmt worden, teilt ein Sprecher mit. Da diese aber erst noch klassifiziert werden müssten, sei gegenwärtig keine Aussage möglich, ob etwas Verbotenes darunter war. In der Pressemitteilung vom 1. Mai ist die Rede von einer „Vielzahl an Pyrogegenständen, weiterem Vermummungsmaterial, Feuerlöschern, Rauchtöpfen und Handschuhen“.
Am Ende ihrer Meldung verweist die Stuttgarter Polizei auf „einzelne Bilder der sichergestellten Beweismittel“ auf ihren Social-Media-Kanälen. Es handelt sich um eine Collage, die drei Objekte zeigt: Ein Demo-Plakat, das zu einem Schutzschild umfunktioniert worden sei, und zwei Holzlatten mit Schrauben. Ein spannendes Detail ist, dass das Demo-Plakat hier ohne Stiel gezeigt wird. Im Gegensatz dazu, wie es hier als „sichergestellter Gegenstand“ zu sehen ist, hatte das Plakat aber noch einen Stiel, als es von der Polizei konfisziert wurde. Das belegen mehrere Videos und Fotostrecken. Dafür sieht eine Dachlatte mit Schrauben, die die Polizei als gefährliche Waffe präsentiert, aus, als könnte sie der fehlende Stiel sein. „War an der Latte ein Plakat befestigt?“, fragt denn auch ein Social-Media-Nutzer. Die Stuttgarter Polizei verneint das nicht, sondern antwortet: „Das müssen die Ermittlungen zeigen. Aus unserer polizeilichen Erfahrung besteht aber der Verdacht, dass diese Gegenstände bewusst für eine Auseinandersetzung angefertigt worden sind.“
Warum der Stiel fehlt und wohin er verschwunden ist, kann die Polizei auf Anfrage nicht erklären. Kann sie denn den Vorwurf zurückweisen, dass die Polizei den Stiel selbst entfernt hat, um ihn anschließend als Waffe zu inszenieren? Gegenwärtig kann die Polizei das nicht ausschließen.
Wie kommt es dann, dass im Polizeibericht so vieles als Fakt dargestellt wird, was gar nicht gesichert ist? Der Verfasser der Meldung erklärt am Telefon, das sei der Informationsstand gewesen, wie er ihm mitgeteilt wurde und so habe er ihn wiedergegeben. Jetzt liefen offene Ermittlungen. Er selbst habe bislang noch kein Videomaterial zum Einsatz gesichtet (Stand 6. Mai 2024).
Dabei hat die Polizei ebenfalls fleißig gefilmt. Ob so doch noch Belege für ihre Behauptungen gefunden werden? Aufnahmen, die Kontext vorliegen, zeigen, dass eine Hundertschaft von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) in schwerer Ausrüstung und ohne Vorwarnung massiv Pfefferspray einsetzt, bevor behelmte Beamt:innen auf Polizeipferden hinzugezogen werden, um die Frontreihe der Demonstration zurückzudrängen. Polizeiliche Bemühungen, die Situation zu deeskalieren, sind nicht erkennbar.
Als sich der Polizeikessel um die Personengruppe lange geschlossen hat, heißt es aus dem Lautsprecherwagen mehrfach: „Achtung, Achtung, es erfolgt eine Durchsage der Polizei: Die Abarbeitung der umschlossenen Personen beginnt jetzt. Verhalten Sie sich kooperativ und leisten Sie keinen Widerstand. Ende der Durchsage.“ Schließlich wird die Kundgebung aufgelöst, da „sich die Versammlungsleitung und die Teilnehmer völlig unkooperativ zeigten“.
Gericht soll Polizeieinsatz prüfen
Die Organisator:innen der Demo wollen nun den Polizeieinsatz gerichtlich überprüfen lassen und sammeln dazu Beweismaterial. „Dass Stoff-Banner länger als 1,5 Meter sind, darf niemals Anlass sein, eine Demonstration gewaltsam zu stoppen, mit Pfefferspray und Schlagstöcken anzugreifen, dutzende Menschen zu verletzen und die Versammlungsfreiheit außer Kraft zu setzen“, sagt Northeim.
Wie in Stuttgart nicht unüblich, hat das Ordnungsamt den Versammlungsbescheid für die Demo am 1. Mai spät zugestellt, nämlich am 29. April. Neben der Längenbegrenzung von Seitentransparenten auf höchstens 1,5 Meter durften die Banner außerdem nicht verknotet werden und mussten mit einem Mindestabstand von zwei Metern zueinander getragen werden, um einen Sichtschutz für die Demonstrant:innen zu verhindern. In verschiedenen Städten, unter anderem Berlin, Düsseldorf und auch Stuttgart, wurde bereits erfolgreich gegen vergleichbare Auflagen geklagt. Im aktuellen Fall stuften das Verwaltungsgericht Stuttgart und der Verwaltungsgerichtshof Mannheim die Auflagen im Eilverfahren. Die Grundlage der Gefahrenprognose wiederum bildeten insbesondere die Erfahrungen aus dem Polizeieinsatz zur „Revolutionären 1. Mai“-Demo im Vorjahr. Auch hier ist ein Verstoß der Demonstrationsbeteiligten gegen die Versammlungsauflagen unstrittig. Wie eingangs erwähnt, begründeten damals zwei Rauchtöpfe das Einschreiten der Polizei, die schnell zu Pfefferspray und Schlagstöcken griff. Diese seien zum Einsatz gekommen, weil es einen Angriff von Demonstrant:innen gegeben habe, heißt es später. In mehreren von der Polizei eingeleiteten Strafverfahren gegen Demonstrant:innen hat bislang hat kein Gericht einen tätlichen Angriff auf die Polizei feststellen können. Anders als später kommuniziert, redete ein Polizeisprecher vor Ort gegenüber Kontext anfangs auch noch nicht von einem Angriff, sondern von „Rangeleien“, als der Demozug gestoppt wurde.
Gesichert und unstrittig ist jedenfalls, dass die Stuttgarter Polizei bei Auflagenverstößen auch mal Kulanz walten lässt. Als „Querdenken“ im April 2021 um die 15.000 Menschen auf die Straßen lockte, von denen sich so gut wie niemand an die Auflagen (Maskenpflicht, Mindestabstand, Zahl der Ordner:innen, u.v.m.) hielt, entschied sich Einsatzleiter Carsten Höfler gegen eine Intervention, da er ein Vorgehen gegen die „Demonstranten aus der bürgerlichen Mitte“ als unverhältnismäßig empfunden hätte.
Bei allem, was unter dem Verdacht steht, linksradikal beeinflusst zu sein, neigt die Polizei in der Landeshauptstadt hingegen zu einer Nulltoleranzlinie. Für den Kurs mitverantwortlich ist Jens Rügner, der seit 2021 beim Stuttgarter Innenstadtrevier „die Zügel in der Hand“ hält, wie es in den eigenen Worten heißt. Auf seinem X-Account schreibt er, er sei „für Frieden + Gerechtigkeit“ und „gegen Hass + Gewalt“.
Wie auch in diesem Jahr hat Rügner bereits 2023 den Einsatz zum „Revolutionären 1. Mai“ geleitet und sich wiederholt für die ganz kurze Leine entschieden. Bevor Rügner im vergangenen Jahr angefangen hat, die Polizeitaktik am 1. Mai zu verantworten, war es in Stuttgart eigentlich immer recht ruhig, sagt einer, der am Tag der Arbeit mal wieder gegen Krieg und für Umverteilung demonstrieren wollte – bis er Pfefferspray abbekommen hat.
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