berliner szenen: Es ist nicht mit anzusehen
Haben Sie meine Schlüssel gesehen?“ Eine alte Dame mit Rollator spricht mich im Bioladen an. Ich frage sie, wo sie die Schlüssel zuletzt gehabt habe. Sie überlegt: „Na hier.“ Ich laufe mit ihr gemeinsam langsam die Kisten mit Obst und Gemüse ab. Nach einer Weile meine ich: „Bitten Sie doch auch die Verkäufer*innen zu gucken. Vielleicht ist der Schlüssel sogar bereits gefunden worden.“ Die Frau geht zur Kasse. Auf dem Rückweg schüttelt sie den Kopf: „Nichts.“
Ich überlege: „Der findet sich sicher.“ Und meine dann, um sie zu beruhigen: „Da steht doch bestimmt keine Adresse drauf. Also kann zumindest nichts passieren.“ Sie nickt. Ich überlege weiter: „Hat vielleicht einer Ihrer Nachbarn einen Ersatzschlüssel? Soll ich irgendwo für Sie anrufen?“ Die Frau winkt ab: „Die sind alle im Krankenhaus. Und da kann ich jetzt nicht hin.“ Ich sehe auf die Uhr: „Doch, um 18 Uhr kann man in so einem Notfall schon ins Krankenhaus.“ Sie wehrt ab: „Da war ich heute ja aber schon mehrmals. Da rufe ich noch eher den Schlüsseldienst. Oder gucke noch mal.“
Sie spricht eine weitere Mitarbeiterin an. Die wird laut: „Wir haben Ihren Schlüssel nicht! Gehen Sie! Sonst rufe ich noch mal einen Krankenwagen!“ Ich sehe die Mitarbeiterin irritiert an. Die holt Luft und erklärt: „Ich weiß, mein Ton war nicht in Ordnung. Aber ich weiß echt nicht mehr weiter.“ Die alte Dame sei jeden Tag da und suche etwas: „Vermutlich Demenz.“ Ich nicke verständnisvoll: „Wohnt sie denn noch alleine?“ Die Mitarbeiterin zuckt mit den Achseln: „Es ist jedenfalls nicht mit anzusehen. Deshalb habe ich heute schon zweimal den Krankenwagen gerufen in der Hoffnung, dass die sich kümmern.“ Ich sehe mich nach der alten Dame um. Sie ist weg. Die Mitarbeiterin seufzt: „Sie kommt sicher gleich wieder.“
Eva-Lena Lörzer
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