Margot Friedländer verstorben: „Ich sagte, seid Menschen!“
Margot Friedländer hat das Ghetto Theresienstadt, Zwangsarbeit und Hunger überlebt. Bis zu ihrem Tod setzte sie sich unermüdlich für die Erinnerung ein.

Am Freitag ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren verstorben. Das teilte die Margot Friedländer Stiftung am Freitag mit. Berlin hat mit ihr seine wichtigste Zeitzeugin über die Verfolgung der Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus verloren.
Bei Margot Friedländer wusste man sehr genau, dass ihre Präsenz nichts mit Eitelkeit zu tun hatte. Sie war eine öffentliche Person ohne Altersgrenze. Denn diese so überaus zuvorkommende, eher leise wirkende Person hatte vor 80 Jahren als verfolgte Jüdin im Untergrund den Nazis widerstanden, von Versteck zu Versteck eilend, immer wieder in Lebensgefahr schwebend. Sie war von der Gestapo entdeckt und deportiert worden, hatte das Ghetto Theresienstadt bei schwerer Zwangsarbeit überstanden. „Die Lebenden sahen aus wie die Toten“, sagte sie über die Befreiung 1945. Danach hat sie wie fast alle jüdischen Überlebenden Deutschland verlassen.
Doch seit 2010 ist sie wieder hier gewesen, in ihrer alten Heimatstadt Berlin. Aber nicht als pensionierte alte Dame, die die Nachmittage vor dem Fernseher verbrachte, nein, das gewiss nicht. Friedländer, die ihr Leben lang nicht an die Öffentlichkeit gedrängt hatte, trat in Deutschland vor Schulklassen auf. Sie erzählten Studentinnen und Studenten von ihrem Leben im Versteck, gejagt von der Gestapo, und vom Hunger in Theresienstadt. Diese Berichte waren ihr Verpflichtung, ein Dienst an der Sache der Gerechtigkeit. Nie wieder, diese etwas in die Jahre gekommene Parole, hatte für Margot Friedländer eine etwas andere Bedeutung als für all diejenigen, die nach ihr geboren worden sind (also eigentlich alle). Denn sie hat die Opfer gekannt, und einige der Täter auch.
Ein gut bürgerliches jüdisches Familienleben
Margot Friedländer hatte viel zu erzählen aus ihrem Leben. Doch um zu wirken, genügten schon wenige Worte aus ihrem Mund, so wie diese Sätze: „Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“
Geboren wurde Margot Friedländer 1921 als Anni Margot Bendheim in Berlin, der Stadt, die sie ein Leben lang geliebt hat. Ihre Mutter hieß Auguste, genannt Guschi und betrieb ein Geschäft für Knöpfe, der Vater Arthur übernahm, so wie es damals üblich war, nach der Heirat 1920 den Laden. Margot wuchs in einem gut bürgerlichen Haushalt auf, mit den Eltern, dem Kindermädchen Frieda und dem später geborenen Bruder Ralph. Man besuchte gerne die Oper und Konzerte und legte anfangs Wert auf einen koscheren Haushalt, doch Weihnachten wurde ebenso wie Chanukka gefeiert. Im Sommer verbrachte man schöne Tage am Scharmützelsee. Das Mädchen Margot besuchte zunächst die jüdische Volksschule und dann die jüdische Mittelschule.
Doch jenseits der bürgerlichen Fassade bröckelte es. Die Eltern hatten sich auseinander gelebt. 1935 erfolgte die Trennung. Den Auszug aus der gemeinsamen Wohnung erlebten die Kinder als tieferen Einschnitt als die Machtübernahme der Nazis zwei Jahre zuvor. Später kamen Vater und Mutter wieder zusammen, doch trennten sich bald darauf erneut und für immer.
Heutzutage verstehen viele Menschen nicht, wieso so viele Jüdinnen und Juden Mitte der 1930er Jahren in Deutschland geblieben und nicht geflüchtet sind. Doch damals konnte niemand wissen, dass die Nazis nur wenige Jahre später den Massenmord zu ihrem Programm machten. „Es war nicht der Mut, der uns fehlte, sondern die Vorstellungskraft“, hat Margot Friedländer dieses Beharrungsvermögen einmal genannt.
Kein Gedanke ans Auswandern
Für eine junge jüdische Frau wie Margot Bendheim gab es um 1935 durchaus bedrohliche Nazis, aber eben nicht nur. Da war der Schulabschluss und der Ausbildungsbeginn in einer Kunstgewerbeschule, später die Lehre bei einer Schneiderin. Dann der erneute Umzug der Familie in eine herrschaftliche Wohnung mit elf Zimmern. Der erste Liebeskummer. Aber kein Gedanke an eine Auswanderung.
Das bürgerliche jüdische Leben im NS-Deutschland besaß keinen Bestand, auch das der Familie Bendheim nicht. Die schrittweise Verarmung begann, gekennzeichnet durch Umzüge, die mit jedem Mal das bisschen Wohlstand, das noch geblieben war, verkleinerten. Das Geschäfte des Vaters wurde „arisiert“. Am Ende wohnten Mutter, Tochter und Sohn in einem als „Judenhaus“ deklarierten Gebäude in Berlin-Kreuzberg.
Erst jetzt und zu spät erkannte die Mutter, dass es um das nackte Überleben ging und bemühte sich um eine Emigration. Aber nun, kurz vor Ausbruch des Krieges, war kaum ein Land mehr zur Aufnahme verfolgter Juden bereit. Einreisepapiere für Brasilien entpuppten sich als Fälschungen, ein hilfreicher Unbekannter, der versprach, Visa für die USA zu besorgen, verschwand mit dem voraus bezahlten Geld. Versuche für eine Reise nach Schanghai und Guatemala scheiterten. Margot musste Zwangsarbeit leisten. Die Deportationen in den Osten begannen 1941, Auswandern war nun verboten. Der Vater saß in Frankreich in Haft.
Leben im Untergrund
Am 20. Januar 1943 holte die Gestapo Margots Bruder Ralph ab. Die Mutter gab daraufhin ihre Pläne für eine Leben im Untergrund auf und stellte sich. Der Tochter hinterließ sie einen Zettel. Darauf stand: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Daran hat sie Margot Friedländer gehalten.
Die Wohnung musste sie fluchtartig verlassen. Margot ließ sich die Haare rot färben. Sie fand Unterschlupf bei einem Unbekannten, doch schon bald drohte der Unterschlupf aufzufliegen. Sie fand einen anderen Helfer, aber der verlangte bald als „Gegenleistung“ Sex von ihr. Danach übernachtete sie auf einem Sessel in der Wohnung eines Ehepaars. Fand ein anderes Versteck voller Schmutz und Ungeziefer. Bei den Luftangriffen auf Berlin durfte sie keinen Bunker betreten. Sie ließ an sich eine Nasen-OP bei „Nasen-Joseph“ vornehmen, um nicht mehr so leicht erkannt zu werden. Margot Friedländer hatte keinen Vertrauten, keine Freundin, niemanden, geriet an immer neue Unterstützer aber fand doch keine wirkliche Unterstützung – bis sie Menschen fand, die Hitler ebenso hassten wie sie und groß auf dem Schwarzmarkt tätig waren.
Nach einem Luftangriff war sie auf der Straße unterwegs, da tauchten Zivilisten auf. Es waren Gestapo-Spitzel in Zivil. Margots Tarnung flog auf. Im Mai 1944 erfolgte ihre Deportation. Nur 23 andere Jüdinnen und Juden wurden mit ihr deportiert, denn außer den Untergetauchten und Personen in „Mischehe“ gab es kaum mehr Menschen jüdischen Glaubens in der Stadt. Die Ankunft in Theresienstadt erfolgte am 6. Juni 1944.
Auch das Ghetto hat Margot überlebt, trotz schwerer Zwangsarbeit. Sie begegnete dort einem anderen Gefangenen namens Adolf Friedländer. Sie erzählte: „Wir erleben die Befreiung zusammen. Ein Moment, den wir nie vergessen werden.“ Drei Monate später heirateten die beiden im bayerischen Deggendorf in einem amerikanischen Lager für die Überlebende. Im folgenden Jahr landete das Ehepaar Friedlander an Bord des Truppentransporters „Marine Perche“ in New York, USA. Nur fort aus Deutschland.
Rückkehr nach Berlin
Dort in New York hat Margot Friedlander 64 Jahre ihres langen Lebens verbracht. Sie arbeitete als Reiseagentin und Schneiderin, erhielt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Ehe blieb kinderlos. 1997 starb ihr Mann.
Sieben Jahre später kam Margot Friedländer zum ersten Mal wieder nach Berlin. „Da habe ich gesagt, ich bin so froh, in meiner schönen Stadt geboren zu sein. Ich habe sofort mich zu Hause gefühlt.“ Ein Dokumentarfilm wird über sie gedreht. 2008 erschien ihre Autobiographie. Und zwei Jahre später entschloss sich Margot Friedlander im Alter von 89 Jahren zur Rückkehr in ihre Heimatstadt. Sie sagte dazu: „Kein Mensch hat mich angeregt zu kommen. ‚Wie kannst Du zurückgehen zu Tätern?‘ Wo ich ihnen dann sofort erklärt habe: ‚Ich gehe nicht zu den Tätern, ich gehe zu der dritten und vierten Generation! Es war meine Entscheidung, weil das die Hoffnung ist, dass es nie wieder geschieht.‘“
Friedländer, nun wieder mit „ä“ geschrieben, bekam die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Für ihr Engagement erhielt sie das Bundesverdienstkreuz an Bande und das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, ferner die Ehrendoktorwürde der FU Berlin, den Deutschen Hörbuchpreis, den Verdienstorden des Landes Berlin, den Walter-Rathenau-Preis und noch einige Würdigungen mehr. Es gibt einen Margot-Friedländer-Preis und eine Margot-Friedländer-Stiftung. Die Stadt Berlin ist sehr stolz auf sie.
„Eine Herzensangelegenheit“
Aber die Zeit heilt nicht alle Wunden. Die Erinnerung schmerzt. „Es ist immer, immer Tag und Nacht bei mir. Es ist sehr oft, dass ich zwei, drei Stunden nicht einschlafen kann, weil einem Sachen durch den Kopf gehen, die damit zu tun haben: warum, wieso und so weiter“, sagte sie. Friedländer war zuletzt empört über das Erstarken des Antisemitismus und Neonazismus. „Ich bin entsetzt, dass Menschen nicht gelernt haben, dass sie Menschen sein sollen.“
Friedländer sollte eigentlich am Freitag das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Die Übergabe durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sei aber kurzfristig noch einmal verschoben worden, hatte die Jüdische Allgemeine erst am Mittag gemeldet. Der Bundespräsident wollte der 103-Jährigen eigentlich am selben Tag im Schloss Bellevue das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik verleihen.
Margot Friedländer war eine der letzten Überlebenden, die untergetaucht im NS-Reich zu überleben versuchten und davon zu berichten wussten. „Was ich tue, ist eine Herzensangelegenheit. Ich tue es für Euch.“
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