„Flügel können eine Bereicherung sein“

Nina Stahr bleibt nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag dauerhaft Grünen-Landesvorsitzende – wie schon von 2016 bis 2021. Ihr Hauptjob: den Landesverband wieder befrieden.Mit Parteiflügeln hat sie dabei kein Problem

Foto: Jörg Carstensen/dpa

Interview Stefan Alberti

taz: Frau Stahr, vor knapp zwei Wochen mussten Sie Ihr Bundestagsbüro räumen, weil Ihr Mandat bei der Wiederholungswahl wegfiel. War’s das mit der Bundespolitik? Oder werden Sie 2025 wieder für den Bundestag kandidieren?

Nina Stahr: Das ist ja vor allem erst eine Entscheidung der Partei.

… der aber Ihre eigene vorangehen müsste.

Stand jetzt gehe ich davon aus, dass ich, wenn die Partei mir ihr Vertrauen schenkt, da auch noch mal antrete.

Sie haben über den Grünen-Landesvorsitz gesagt: „Das ist ein unheimlich schöner Job.“ Das klang fast schon wie Franz Müntefering, der den SPD-Vorsitz zum „schönsten Amt neben Papst“ hochstilisierte. So begeistert klangen Grünen-Chefs nicht immer.

Ich würde weder Papst noch SPD-Vorsitzende sein wollen, aber ja, ich finde tatsächlich, dass der Vorsitz der grünen Partei ein schöner Job ist. Natürlich gibt es auch schwierige Momente, gerade jetzt im Nachgang der Landesdelegiertenkonferenz im Dezember, das brauchen wir ja gar nicht zu beschönigen. Da gab es Gespräche, die herausfordernd waren, keine Frage. Was ich an der grünen Partei so schätze, ist, dass wir in der Sache durchaus streiten, aber dabei auch ernsthaft Argumente austauschen und am Ende eine gute, gemeinsame Lösung finden. Diese konstruktive Arbeitsweise bei uns Bündnisgrünen schätze ich sehr, und das macht dieses Amt tatsächlich zu einem so schönen Job.

Das Miteinander-Streiten fand zumindest beim angesprochenen Parteitag im Dezember und in seinem Vorfeld in einer Atmosphäre statt, die nun wenig inhaltlich, sondern stark von Diffamierungen geprägt war. Werbung für grüne Diskussionskultur war das nicht.

Dieser Parteitag war wirklich keine Glanzleistung …

… was man noch eine Untertreibung nennen könnte …

… und natürlich müssen wir das aufarbeiten. Gleichzeitig nehme ich in der Partei wahr, dass ein großer Wille da ist, das zu klären und nach vorne zu schauen und zu sagen: Wie können wir solche Vorkommnisse in Zukunft verhindern?

Renate Künast hat im Januar eine Ende der – ihre Wortwahl – „Flügelscheiße“ gefordert. Sie haben darauf verhalten reagiert und gesagt, Strömungen oder Flügel hätte jeder Sportverein und jede Kirchengemeinde. Sie empfinden die Flügelbildung nicht als negativ?

Das kommt drauf an, ob die Flügel sich gegenseitig befruchten. Treffen unter Gleichgesinnten – nennen wir es dann Flügel – bieten einen offenen Denkraum, wo man Dinge auch mal antesten und vordiskutieren kann, wo man einfach mal laut denken kann, ohne dass einem das gleich auf die Füße fällt.

Wenn Leute bei der CDU in dieser Weise zusammensitzen, sind die Grünen schnell dabei, das als Hinterzimmerrunden oder Klüngeleien einzuordnen.

Die Frage ist: Wie transparent ist es, dass Leute sich treffen? Und mache ich das mit 5 Leuten, mit 50 oder 150? Da ist der Unterschied in der Größe. Ich glaube tatsächlich, dass Parteiflügel als eine Art Thinktank agieren können und dass sie eine Bereicherung für eine Partei sein können. Aber es muss ein gegen­seitiger Respekt dafür da sein, dass Menschen unterschiedliche Erfahrungen und Lebensrealitäten mitbringen und entsprechend unterschiedliche Schwerpunkte setzen möchten. Nur wenn man das zusammenführt, kann man auch für die ganze Stadt ein Angebot machen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Renate Künast das auch in diese Richtung gemeint hat.

Mit der gescheiterten Wahl von Tanja Prinz und Ihrer Rückkehr in den Landesvorsitz hat sich der Unmut ja nicht aufgelöst, der Prinz überhaupt erst zur Kandidatin machte. Das war unter anderem die Kritik, die Berliner Grünen seien zu links orientiert und hätten bürgerliche Wähler vergrätzt.

Wir haben sicherlich noch ein Stück Weg zu gehen. Denn natürlich hat sich im Umfeld dieses Parteitages einiges abgespielt, worüber wir jetzt weiter in der Partei sprechen müssen. Und genau das tun wir jetzt. Ich bin der festen Überzeugung, dass man Unstimmigkeiten und Verletzungen nur ausräumen kann, wenn man miteinander spricht und nicht übereinander.

Durch den Streit ist eine Gruppe über die Partei hinaus bekannt geworden: „Grüne Realos in Mitte“, kurz: gr@m. Manche nennen sie Ultra-Realos. Sie gehören selbst dem Realo-Flügel an: Wie ist Ihr Blick auf diese Gruppe?

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, nicht über einzelne Personen in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ich kenne viele Realos aus Mitte, die eine sehr gute inhaltliche Politik machen. Ob die sich dann der genannten Gruppe zugehörig fühlen, das müssen Sie die Leute jeweils selber fragen.

Tanja Prinz hatte im taz-Interview gesagt: 18,4 Prozent – das Ergebnis der Grünen bei der Berlin-Wahl – seien nicht das Ende der Fahnenstange. Wo ist dieses Ende aus Ihrer Sicht?

Wir kämpfen natürlich für so viele Wählerinnen und Wähler wie möglich, und natürlich sehe auch ich das so, dass 18,4 Prozent nicht das Ende der Fahnenstange ist.

Vergleichsgröße ist gern Baden-Württemberg, wo die Grünen 2021 über 32 Prozent holten.

Da müssen wir schon genauer berücksichtigen, wie die Gemengelage in Berlin ist. Hier sind linke Parteien noch mal deutlich diverser aufgestellt. Die Linkspartei etwa spielt hier eine viel stärkere Rolle als in Baden-Württemberg. Und das macht natürlich dann auch einen Unterschied für Berliner Wahlergebnisse. Gleichzeitig teile ich nicht die Analyse, dass wir nicht genug auf das bürgerliche Lager gucken. Denn ich finde, als Politik ist es unsere Verantwortung, für alle Menschen in dieser Stadt ein Angebot zu machen, die eine demokratische Partei wählen wollen.

Das war und ist ja die Kritik von Prinz und gr@m: dass der Landesverband eben nicht die ganze Stadt im Blick habe.

In der Analyse der Wahl sehen wir doch: 2021 hatte wir unser historisch bestes Ergebnis, 2023 haben wir minimalst verloren, während die anderen beiden Parteien, die mit uns im Senat waren, deutlich mehr verloren haben. Das zeigt, dass wir ein Stabilitätsfaktor in dieser Koalition waren und durchaus für die ganze Stadt ein Angebot gemacht haben.

… was aber eben nicht alle so wahrgenommen haben.

Was wir ehrlich besprechen müssen, ist, dass es im Wahlkampf oft weniger um unser eigentliches Programm ging, sondern wir uns vor allem von der CDU in eine Ecke haben drängen lassen als Anti-Auto-Partei. Da hätten wir stärker zeigen müssen: Wir sind eine Partei, die alle Menschen in dieser Stadt im Blick hat. Das haben wir vielleicht tatsächlich nicht ausreichend vermitteln können.

Wobei die Grünen ja durchaus einiges getan haben, diesem CDU-Bild zu entsprechen: Die Sperrung der Friedrichstraße fiel ja nicht vom Himmel.

Ob die Friedrichstraße autofrei ist oder nicht, ist für einen großen Teil der Menschen in dieser Stadt doch gar nicht entscheidend. Das ist vor allem für die Gewerbetreibenden vor Ort wichtig. Da bin ich immer noch der Meinung, dass man die Friedrichstraße sehr viel attraktiver gestalten kann, als sie es derzeit als Durchgangsstraße ist. Wenn sie für die Menschen in der ganzen Stadt attraktiver wird, nutzt das wiederum den Gewerbetreibenden.

Es spielte in der Debatte aber keine Rolle, ob jemand tatsächlich in der Friedrichstraße unterwegs war oder nicht: Sie wurde als Symbol für grüne Anti-Auto-Politik wahrgenommen.

Vielleicht haben wir da zu sehr fokussiert auf diesen einen Punkt und nicht geschafft zu zeigen, dass wir beim Verkehr das große Ganze im Blick haben. Wenn ich mir anschaue, dass dieser schwarz-rote Senat jetzt an so vielen Stellen Tempo 30 wieder zu Tempo 50 machen will, dann macht mich das richtig sauer, denn uns geht es um Verkehrssicherheit für alle Verkehrsteilnehmer*innen, gerade für die schwächsten. Das torpediert der Senat, wenn er alle Fortschritte der letzten Jahre wieder zurückdreht.

Kritische Stimmen halten der Parteiführung auch vor, das Thema innere Sicherheit zu vernachlässigen.

Nina Stahr (41) verlor im Februar ihr Bundestagsmandat und kann die Grünen darum dauerhaft führen. Dass sie im Dezember nach einem Chaos-Parteitag als Landeschefin einspringen konnte, lag an einer befristeten Ausnahme vom Prinzip der Trennung von Amt und Mandat.

Ich nehme das gar nicht mehr so wahr. Natürlich haben wir erkannt, dass innere Sicherheit ein Thema ist, das viele Menschen bewegt. Da haben wir uns als Bündnisgrüne massiv weiterentwickelt. Aber was wir halt nicht machen, ist, billige Antworten zu geben. Wenn wir uns Silvester 2022/23 anschauen, und die Antwort der CDU darauf ist, nach den Vornamen der Täter zu fragen – das ist nicht unsere Politik. Übrigens: Einer unserer Berliner Kan­di­da­t*in­nen für die Europawahl im Juni ist Polizist. Auch das zeigt, dass wir dieses Thema ernst nehmen und viele Perspektiven auf innere Sicherheit in unserer Partei zusammenbringen.

Diese Vornamensdebatte schien schon fast vergessen, bis vorige Woche im Abgeordnetenhaus klar wurde: Die angebliche Entschuldigung von CDU-Regierungschef Kai Wegner hat es offenbar nie gegeben. Werden die Grünen da noch mal nachhaken?

Natürlich muss Kai Wegner da eine klare Position beziehen. Als Regierender Bürgermeister einer Stadt wie Berlin, die ja auch von der Vielfalt lebt, ist er da einfach in der Pflicht.

Es gibt aus dem Realo-Flügel heraus auch die Forderung, über die nächste Spitzenkandidatur per Urwahl zu entscheiden und nicht bei einem Parteitag. Unterstützen Sie das?

Mir ist diese Forderung bisher nicht bekannt. 2021 haben wir pandemiebedingt die Liste auf einer Landes­delegiertenkonferenz aufgestellt. Davor haben wir das üblicherweise bei einer Mitgliederversammlung gemacht, was ja einer Urwahl nahekommt.

Das stimmt ja so nicht: Da kamen vielleicht 15 bis 20 Prozent der Mitgliedschaft – an der SPD-Urabstimmung über die schwarz-rote Koalition nahmen über 60 Prozent teil.

Wir diskutieren derzeit ohnehin über unsere Strukturen, aber das Thema Urwahl wurde dabei bisher nicht eingespeist. Ganz ehrlich, wir sind im Moment in der Mitte der Wahlperiode – das entscheiden wir dann zu gegebener Zeit.