: Die Erschütterung aller Einsichten
Das Gegenteil von Lokalpatriotismus: Das Staatstheater Braunschweig wagt sich mit Virtual-Reality-Brillen ins Dickicht von Thomas Braschs Mädchenmörderprojekt
Von Jens Fischer
Mit einer Dopplung der Realität führt das Theaterkollektiv „Raum + Zeit“ um Regisseur Bernhard Mikeska in seine Ästhetik ein. Die digitale Welt ist ein Abbild der analogen. Mit einer VR-Brille sehen Zuschauer das Theater, in dem sie sitzen. Klassisch karg wirkt die Szenerie auf der Bühne: Ein Glas Wasser schmückt den soliden Tisch, umgarnt von zwei Stühlen, gekrönt von Omas Wohnzimmerlampe. Die Intendantin kündigt eine sensationelle Lesung mit einem „Superstar der Gegenwartsliteratur“ an.
Der 2001 verstorbene Thomas Brasch soll seine 14.000-seitige Auseinandersetzung mit dem Braunschweiger „Mädchenmörder:: Brunke“ vorstellen. Darsteller Götz van Ooyen zeigt ihn im 360-Grad-Film mit Lederjacken-Jeans-Design und antibürgerlicher Bockigkeit als streitbaren Dissidenten, schwankend zwischen Wut und Resignation, sodass auch seine trübsinnigsten Sentenzen etwas Attackierendes haben. Brille ab, befiehlt er – und steht nun live auf der analogen Bühne. Sofort geht’s um seine Obsession. „Erschütternde Einsicht in die eigene Existenz“ sei ihm aus dem Leben des 18-jährigen, kleinkriminellen Banklehrlings Karl Brunke „entgegengeschallt“, der 1905 die selbstmordromantischen Mädchen Martha und Alma Haars auf deren Wunsch hin erschoss.
Nicht verwunderlich also, dass Stückautor Lothar Kittstein nicht den Westberliner Architekten D. H. wie in Thomas Braschs Originalmanuskript der Brunke-Faszination erliegen lässt, sondern gleich „T. B.“ Er fühlt sich in seinem anarchorebellischen Selbstverständnis wie der Doppelmörder Brunke, ebenfalls von van Ooyen gespielt, beide würden wie Zirkuspferde durch die Manege der selbstzufrieden naserümpfenden Öffentlichkeit getrieben.
Thomas Brasch, Autor
Brasch gleicht sich zunehmend seinem Geschöpf in Wortlaut wie Gehabe an und preist es zudem noch als Erfinder eines Liebes-/Ejakulationsapparats. Mit dem könne Mann „sich einen runterholen lassen ohne Gegenpart“.
Es folgt Braunschweig-Bashing. Als „Chiffre für mörderische Langeweile, für Durchschnitt und Spießertum“ beschreibt Brasch die Löwenstadt, geradezu als Symbol für die Ödnis der Existenz. Zugleich betont er seinen kraftvoll derben Macho-Duktus, wenn er von Brunkes Engagement als Klavierlehrer der Haars-Mädchen berichtet und sich fragt, ob die „bis dato anständig ungefickten Töchter in Wirklichkeit unanständig durchgefickt werden wollten“.
Das ist nicht der Fall. Daheim eingesperrt, führen sie eine trostlose Existenz und wollen raus wie Tschechows „Drei Schwestern“, wenn auch nicht konkret nach Moskau, sondern ganz grundsätzlich ins pralle Leben – oder in den Tod. Denn die eine liebt einen Russen, darf ihn aber nicht heiraten. Die Schwester identifiziert sich mit diesem Leid. Brillen auf. Nun illusioniert der 3-D-Film, einfach kompliziert, dass wir Theaterbesucher im Brunke-Kostüm auf Braschs Bühnenplatz sitzen.
Eine kammerspielintim eindringliche Situation. Die anwesenden Mädchen – Schleifchen im Haar, Spitze an den Strümpfen, martialische Stiefel an den Füßen – reizen den nun mitten im Geschehen hockenden und nicht entkommen könnenden VR-Zuschauer als Brunke, verhöhnen sein Selbstverständnis als Künstler und bedrängen seine Zurückhaltung.
Ein arrogant-zynisches Machtspiel, das die beiden nicht mitleidenswert, sondern ziemlich unsympathisch und es daher schwer verständlich macht, dass der Vorgeführte diesen Provokateurinnen den mörderischen Gefallen tun will. Brille ab, zurück auf die materiell anwesende Bühne, wo Brunke im Eitelkeitsrausch eines seiner Theaterstücke am Braunschweiger Hoftheater vorstellt, Desinteresse erntet und zur braschigen Publikumsbeschimpfung übergeht: „Mein Talent kommt über eure matten Glieder, / eure schleierhaften Augenlider, eure Hängebrüste, / blutentleerte, schlaffe Stangen. / Münder, die nie von Sehnsucht sangen. / Krämerseelen, die um Kleinkram bangen. / Wixer.“ Geheimnisvoll flirrend wie Geister wehen noch die divenhaft affektierte Mutter Brunkes und der Kapitalisten-Papa der Mädchen durch eine zunehmend surreale Szenerie.
Mit spielerischer Ironie inszeniert Bernhard Mikeska ein Vexierspiel aus Brechungen und Spiegelungen. Im steten Wechsel von Live- sowie VR-Theater entwickeln sich so Form und Inhalt ganz wunderbar auseinander, sodass die Verschmelzung gelingt. Brasch verliert sich real in den Untiefen seines Lebens, im Theater in der Imagination und virtuellen Realität: Brasch wird zu Brunke, Brunke wird zu Brasch.
Die Identitätsverwirrung des rastlos Suchenden im Angesicht des banal Bösen überzeugt darstellerisch wie technisch. Unausgeleuchtet bleibt die gesellschaftliche Dimension, was über die individuelle Sinn- und Lebenskrise hinausweist. Aber mitten in Braschs Denken und Scheitern verweilt zu haben, ist ein faszinierendes Theatererlebnis.
Schauspiel „Mädchenmörder:: Brunke“, Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus, wieder am 8., 15., 18., 23., 28. 2. und 1. 3., jeweils 19.30 Uhr
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