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: „Es ist immer wieder neu das Ringen um Selbstbestimmung“

Annelie Keil referiert über die Soziologie der rätselhaften Krankheit Demenz

Interview Alina Götz

taz: Frau Keil, haben Sie sich schon mal Gedanken gemacht, wie Sie mit der Diagnose Demenz umgehen würden?

Annelie Keil:Natürlich. Ich habe mein Leben immer mit Gedanken begleitet, das wäre schon sehr anders für mich, wenn mir diese Reflexion abhandenkäme. Ich wohne allein, habe Pflegestufe zwei und beobachte genau, was es mit mir macht, dass mein Gehen und Sehen und vieles andere schlechter wird. Für mich ist klar, dass ich in ein Heim gehe, wenn ich nicht mehr oder kaum noch selbstständig sein kann. Wie Demenz sich mit ihren Folgen wirklich anfühlt, weiß ich nicht, aber mit meiner Arbeit übe ich mich selbst in Empathie.

Was genau ist Demenz?

Wenn das Gehirn nicht mehr zuverlässig in der gewohnten Ordnung arbeitet. Die Orientierung, die wir gelernt haben, wird schwächer: Wo wohnt wer, Namen, Zahlen … Es handelt sich also um einen zunehmend veränderten Zustand im Kopf, der unglaublichen Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten hat. Alzheimer ist vergleichsweise gut erforscht, es gibt aber viele Formen der Demenz. Woher die Krankheit kommt und ob sie vermeidbar ist, wissen wir nicht.

Und eine Behandlung ist nicht möglich.

Foto: Kathrin Doepner

Annelie Keil

*85, Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin, ist in der Hospizbewegung aktiv und Mitbegründerin des Weiterbildungsstudiengangs Palliative Care in Bremen.

Es ist anders als etwa bei der Krebserkrankung. Da ist die Frage: OP oder nicht, Chemotherapie ja oder nein. Aber nur weil wir nicht wissen, womit wir es ursächlich genau zu tun haben, heißt das nicht, dass wir uns nicht darum kümmern müssen, wie wir den vielen Betroffenen und ihren Angehörigen helfen können. Es ist wichtig, die Krankheit als gemeinsames Problem zu erfassen. Doch die Gesellschaft kann etwa mit dem Anderssein und der Auffälligkeit der Betroffenen nicht umgehen. Schon als Kindern wird uns klargemacht, wie wir in die Gesellschaft passen sollten, nicht aus der Rolle fallen dürfen. Man läuft nicht einfach weg, isst mit Messer und Gabel, geht halt nicht mit offenem Hosenstall durchs Altenheim. Und doch ist Demenz und das auffällige Verhalten allgegenwärtig.

Haben Sie in Ihrem Umfeld Betroffene?

Meine Mutter war dement und ich konnte das lange nicht einordnen. Im Augenblick gibt es drei befreundete Ehepaare; einmal ist der Mann, zweimal die Frau demenziell erkrankt. Und die sind gerade über 60. Sie erkennen ihre Umwelt nur schwer, bleiben beim Essen nicht sitzen, sondern räumen ab, während andere noch essen, verlaufen sich, reden kaum noch.

Wie gehen Sie damit um?

Vortrag „Das Herz wird nicht dement!“: Do, 22. 2. (ausgebucht), Mi, 3. 4., 17 Uhr, Zentralbibliothek Bremen, Am Wall 201 (Wall-Saal). Eintritt frei, Anmeldung an info@hospiz-bremen.de oder ☎0421 / 32 40 72

Nicht weglaufen, verstehen lernen und Wege suchen. Auf jeden Fall nicht den freundlichen Umgang aufgeben, Menschen ständig einschränken oder aus Angst einsperren. Wer sagt denn, dass man am Tisch sitzen bleiben muss, bis alle fertig sind? Wir nennen den Zustand der Betroffenen krank und denken, der Mensch besteht dann nur noch aus seinem kaputten Gehirn. Demente Menschen werden häufig als trotzig wahrgenommen – das aber ist immer wieder neu das Ringen um Selbstbestimmung.

Es ist für alle Beteiligten schwierig.

Das schwerste Stadium ist, wenn ein Mensch merkt, dass er sich selbst plötzlich nicht mehr einschätzen kann. Deswegen fangen demente Menschen früh an zu schweigen, verweigern sich den Abläufen um sie herum. Sie erzählen in unserer Wahrnehmung ja immer dasselbe. Und wir sagen: „Das hast du schon 30-mal erzählt“, anstatt die Nuancen und die Wichtigkeit der Geschichte wahrzunehmen. Die Fantasiewelten der Betroffenen sind nicht mehr kontrollierbar, ihre Gefühle und Gedanken dagegen sind auf andere Weise real. Sie brauchen Trost, Zuwendung, keine Korrektur – das gleiche gilt für die Angehörigen.