Ausgehen und rumstehen von Robert Mießner: Wie klingt Zweifel-Musik?
Donnerstags lockt mich der Zweifel an die frische Luft. Um den Außenweltschock zu verarbeiten, zieht es mich alsdann in das Hinterzimmer einer Kneipe. Die Kultur- und Schankwirtschaft Baiz an der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg ist Gastgeberin der neuen Ausgabe des Periodikums „Zweifel“.
Es ist nicht die erste Lesung anlässlich einer Veröffentlichung, und das kommt nicht von ungefähr. Die Baiz liegt in einem Planquadrat der Außerplanmäßigkeit: Fünf Gehminuten die Schönhauser Allee hinunter befanden sich an der Schönhauser Allee 20/21 ab 1989 zwei besetzte Häuser, zu denen die Kneipe „Zum Räwier“ gehörte. Die hatte ihren Namen von dem benachbarten Polizeirevier, und mit dem pflegten die Häuser nach dem Mauerfall, was vorher undenkbar gewesen wäre, eine Sicherheitspartnerschaft. Als aus dem „Räwier“ die „MS Völkerfreundschaft“ geworden war, gab es dort in den späten Abendstunden rustikale Tanzvergnügen mit Ska, Soul und anderer Schubserei, in den frühen Abendstunden war der Schriftsteller Wolfgang Hilbig zu Gast.
Im Hinterzimmer der Baiz sitze ich unter einem Plakat der Berliner Pflanze Rio Reiser, dessen Band Ton Steine Scherben sich die eine oder andere Hausbesetzung verdankt. Stichwort Zweifel: Reiser schaffte es, den frenetischen Jubel, mit dem sein Publikum den Scherben-Song „Der Turm stürzt ein“ feierte, mit dem Satz zu kommentieren: „Sehen wir zu, dass er uns nicht auf die Köpfe fällt.“ Auch das ist Zweifel. Der Bedarf an ihm ist da, der Abend gut besucht.
Was ist es mit dem Zweifel? Wer damit Verzweiflung assoziiert, dem schlägt die Schriftstellerin und Schauspielerin Christine Sohn, Mitglied der „Zweifel“-Redaktion, das Wort „Erzweifeln“ vor. Für ein halbes Dutzend Ausgaben hat der Schriftsteller Bert Papenfuß, „Zweifel“-Redakteur auch er, der Zeitschrift Text-Banderolen beigefügt. 2018 stand da zu lesen: „Die Reise in den Weltenraum kann auch nach innen losgehen.“ Fünf Jahre später liegt Bert Papenfuß auf dem Georgenfriedhof zwischen Greifswalder Straße und Prenzlauer Allee.
Der „Zweifel“ hat keine Banderole mehr, dafür ist aus der Zeitschrift ein 200 Seiten starkes Jahrbuch geworden. Es war Papenfuß, der mit dem Herausgeber Rembert Baumann eine Veröffentlichungsidee des Schriftstellers, Philosophen und Fotografen Ernst Fuhrmann aus den späten Zwanzigerjahren umsetzte. Aufnahmen aus Fuhrmanns Folkwang-Auriga-Verlag sind momentan in der Ausstellung „Grünzeug“ in der Berlinischen Galerie zu sehen.
Wie klingt Zweifel-Musik? Nicht zu geradlinig, aber beherzt, experimentell, aber nicht zu akademisch sollte sie sein. Am Sonnabend fahre ich nach Tiergarten. Das Thermometer ist weiter gefallen. Im Woolworth-Schaufenster zur Potsdamer Straße hin hat es einen von einem halben Dutzend XXL-Teddys umgehauen. Der Bär liegt flach.
An der Kurfürstenstraße biege ich ein. Noch bis September 2022 wäre ich weiter bis zur Pohlstraße gelaufen, wo der Musiker und Maler Joel Grip mit dem Au Topsi Pohl einen Ort für Improvisierte Musik betrieben hat. Schön ist es gewesen und wird es am Wochenende noch einmal für einen verlängerten Nachmittag. Grip hat in sein Atelier zum Trio Oùat eingeladen: Der Gastgeber am Bass, auf dem er schon mal trommelt, Simon Sieger an der Perkussion und am Piano, der aber auch einen lautmalerischen Gesang in petto hat, und Schlagzeuger Michael Griener, der seine Hi-Hat mit Schellenkranz spielt und auch sonst die eine oder andere Überraschung aus dem Ärmel zieht. Zu jeder vollen Stunde legen sie los. Gäste schauen rein. Den Klarinettisten Rudi Mahall verpasse ich leider, dafür stellt sich die Perkussionistin Bex Burch mit ihrem Gyil Xylophon ein. Das Holzinstrument hat sie selbst in Ghana gebaut. Glocken und Glöckchen kommen hinzu.
Der akustische Drum ’n’ Bass spielt vor und neben Bücherregalen und Bildern. Auf ihnen zu sehen ist ein Barhocker im Sturzflug oder aber, es trägt ein Mensch einen Blumenstrauß durch eine Häuserschlucht. Der Hutrand des Flaneurs ist auf einer Höhe mit dem Dachgesims. Soviel ist gewiss.
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