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Alle Klangfarben einer Tragödie

Auf den Barocktagen der Staatsoper Berlin hatte die selten gespielte Oper „Médée“ von Marc-Antoine Charpentier Premiere. Sir Simon Rattle stand am Pult des Freiburger Barockorchesters

Von Katharina Granzin

Alle Jahre wieder passiert es. Dann halten für zehn Tage Gamben, Theorben und Traversflöten Einzug im Orchestergraben der Staatsoper unter den Linden, und die Barocktage finden statt. Die Staatskapelle kann dann Urlaub machen oder auf Tournee gehen. Auf dem Festival sind in der Mehrzahl Produktionen vertreten, die bereits anderswo erfolgreich gezeigt wurden; doch auch eine eigene Premiere darf auf den Barocktagen nicht fehlen.

In diesem Jahr ist es „Médée“, die sehr selten gespielte, einzige große Oper des Franzosen Marc-Antoine Charpentier, eines Zeitgenossen des zu Zeiten von Louis XIV. allmächtigen Jean-Baptiste Lully. Da letzterer zu Lebzeiten über eine Art Opernmonopol verfügte, hatten die Kollegen nur wenig Möglichkeiten, auf diesem Feld zu reüssieren. Charpentier wurde daher vor allem als Komponist geistlicher Musik bekannt. Zu Unrecht, wie die Berliner „Médée“ eindrucksvoll beweist.

Man hat für diese Produktion nicht gekleckert mit großen Namen, sondern geklotzt. Sir Simon Rattle dirigiert das Freiburger Barockorchester, Magdalena Kožená singt die Titelrolle, Peter Sellars hat Regie geführt und Frank Gehry das Bühnenbild entworfen. Dass Charpentiers „Médée“ kaum auf der Bühne zu sehen ist, hängt auch damit zusammen, dass viel Vorarbeit geleistet werden muss, um sie aufführungsreif zu machen. Der Komponist hat nur einen vollständigen Streichersatz und eine Harmonisierung für die begleitende Basslinie schriftlich fixiert; die komplette Instrumentierung für Orchester aber war nach den zeitüblichen Gepflogenheiten frei zu gestalten und muss auch für heutige Aufführungen erst erarbeitet werden.

Im Programmheft wird der Cembalistin Elisabeth Geiger gedankt, die vermutlich hauptsächlich dafür gesorgt hat, dass diese Berliner Médée ein so klangfarbenreiches Erlebnis geworden ist. Rattle und Sellars haben den Stoff zudem entscheidend gestrafft und unter anderem etliche „Divertissements“ gestrichen, heitere Tänze, die in der französischen Barockoper mindestens an den Schluss jedes Aktes gehörten. Auch in dieser gekürzten Fassung dauert der Abend – mit Pause – noch gut dreieinhalb Stunden.

Das ist lang, und manchmal, so zwischendrin, denkt und spürt man das auch. Aber diese Momente der Schwäche gehen vorbei, denn in der Musik ist viel Abwechslung, und außerdem bleibt Medeas Geschichte spannend, auch wenn man sie schon hundertmal in verschiedener Form gesehen haben mag. Das liegt nicht unbedingt an Peter Sellars’ Inszenierung, aber auch das ist als Konzept eigentlich in Ordnung. Sellars, der sich ja auch verdient gemacht hat mit dem In-Szene-Setzen von Oratorienaufführungen, geht für „Médée“ nicht sehr viel anders vor, entscheidet sich eher dafür, symbolische Bilder zu setzen, als durch viel Bewegung die Musik zu stören, die sich zum größten Teil dialogisch äußert.

Das von Thomas Corneille (dem jüngeren Bruder des berühmteren Pierre) stammende Libretto ist sehr dramatisch gedacht, und Charpentier setzt das dialogische Prinzip fort. Medeas große Tragödie entwickelt sich in wechselnden musikalischen Zwiegesprächen: Medea singt im Dialog mit dem untreuen Jason, Jason mit König Kreon, Kreon mit seiner Tochter Kreusa, in die Jason sich verliebt hat, Medea mit Oronte, der ebenfalls in Kreusa verliebt ist, Medea mit Kreon, der sie verbannen will. Und immer so fort, und meistens wird aus dem Dialog am Ende ein wundervolles Duett, aber es singt auch mal jemand allein. Sehr organisch gehen die rezitativen in die arioseren Teile der Musik über. In dieser Hinsicht ist das Musiktheater von Marc-Antoine Charpentier modernen Standards des durchkomponierten Bühnenwerks viel näher als die Nummernoper des 18. Jahrhunderts.

Während alle anderen Personen im Grunde nur auf- und abtreten, belebt Medea, die im fremden Land vom Ehemann Verratene, als einzige Figur mit ihrem Körper den Raum. Wenn doch einmal ein Divertimento erklingt, tanzt sie sogar; anfänglich als verzweifeltes Aufbäumen von Lebenslust in einer Zwangslage, am Ende als Ausdruck von beginnendem Wahnsinn, in den sie ihre Kinder mit hineinzieht. Magdalena Kožená ist eine Wucht und zieht stimmlich alle Register zwischen zärtlichem Lyrismus und blanker Wut; doch nicht sie allein trägt die Oper, sondern an diesem Abend ist tatsächlich das gesamte Ensemble optimal besetzt.

Es ist ein wahres Sänger:innenfest. Und auch für die Opernstimmen muss es ja ein Fest sein, bei den Arien nicht vom großen Orchesterapparat begleitet zu werden, sondern oft nur vom unterstützenden Basso continuo. Sir Simon Rattle und das Freiburger Barockorchester pulsieren dann so freundlich und tröstend mit, dass es, zum Beispiel, um so erschreckender ist, welch drohendes Timbre das Orchester entwickeln kann, wenn es von den Abgründen der Hölle zu erzählen hat. Alle Farben der Barockmusik sind an diesem Abend aus dem Orchestergraben zu hören. Und dazu steigen zwei Wolken am Bühnenhimmel mal hinauf und mal hinab.

Weitere Vorstellungen am 23. und 25.11.

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