„Vor einer Woche noch unvorstellbar“

Nach einem versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in der Brunnenstraße äußern Jüdinnen und Juden Ängste vor weiteren Attacken – wollen sich aber auch nicht einschüchtern lassen

Haus der jüdischen Kahal Adass Jisroel Gemeinde in Mitte Foto: Markus Schreiber/ap

Von Plutonia Plarre

Das Gebäude in der Brunnenstraße ist weiträumig mit Flatterband abgesperrt. Es ist Mittwochmittag, viele uniformierte Polizisten stehen neben dem Eingang, auch viel Presse ist da. Der jüdische Verein Kahal Adass Jisroel unterhält in dem Gebäude neben einer Synagoge auch eine Kindertagesstätte und eine Grundschule. In der Nacht zuvor haben Unbekannte mit Molotowcocktails versucht, einen Brandanschlag auf das Gebäude zu verüben.

Um 3.45 Uhr hätten sich zwei Vermummte zu Fuß genähert und zwei mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte brennende Flaschen in Richtung des Gebäudes geworden, teilte die Pressestelle der Polizei mit. Die Flaschen seien bei dem Aufschlag auf dem Gehweg zerbrochen, das Feuer dabei weitestgehend ausgegangen. Der Objektschutz habe den Rest gelöscht. Die Absuche der Umgebung durch alarmierte Einsatzkräfte sei erfolglos verlaufen.

Sichtbare Spuren auf dem Bürgersteig haben die Molotowcocktails nicht hinterlassen, aber innerliche Spuren. Anna Segal, Geschäftsführerin von Kahal Adass Jisroel (KAJ), spricht sie am Mittwochmittag in die Mikrofone. Seit dem Anschlag der Hamas auf Israel und dem sich zuspitzenden Nahostkonflikt habe sich das Leben der jüdischen Community in Berlin einschneidend verändert. „Wir fühlen uns als wandelnde Zielscheiben“, sagt Segal. Die „neue Realität“ wecke schlimme Erinnerungen an die Nazizeit. „Wenn du aus dem Haus gehst, schaust du, ob es Schmierereien an der Haustür gibt.“ Auch die Kinder trauten sich nicht mehr, erkennbar jüdisch auf die Straße zu gehen. „Unsere Kinder wachsen selbstbewusst jüdisch und gläubig auf“, sagt Segal. Aber der ältere Sohn habe den jüngeren Bruder aus eigenem Antrieb aufgefordert, seine Kippa in der Öffentlichkeit zu verstecken. Vor einer Woche hätte sie nicht geglaubt, dass es dazu komme, sagt Segal.

Auch Pasha Luybarsky, Vorsitzender der KAJ, hält mit seinen Sorgen nicht hinter dem Berg, als er von einer Delegation der Linkspartei nach seinem Befinden gefragt wird. Die Bundesvorsitzende der Linken, Janine Wissler, sowie die Bundestagsabgeordnete Martina Renner und Maximilian Schirmer, Landesvorstand Berlin, sind an diesem Mittag zum Ort des Geschehens gekommen, um ihre Betroffenheit zu bekunden. Auch einen Blumenstrauß haben sie mitgebracht. Die Geschäftsführerin Anne Segal nimmt das Gebinde erfreut entgegen. Vor dem Gebäude sind es an diesem Mittag die einzigen Blumen weit und breit.

Auch das gehört zu den bedrückenden Momenten der letzten Woche. Dass in Berlin kaum Menschen auf die Idee kommen, ihre Solidarität mit Israel durch das Ablegen von Blumen vor jüdischen oder israelischen Einrichtungen zu bekunden. Nach den islamistischen Anschlägen in Paris 2015, bei denen über 100 Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden, war das anders. Berge von Blumen türmten sich da meterlang vor der Französischen Botschaft am Pariser Platz.

Ob sie wegen des versuchten Anschlags schon Genaueres wüssten, fragt Janine Wissler Segal und Luybarsky am Mittwochmittag. Die verneinen. Der Wachschutz sei aber sofort zur Stelle gewesen und auch die Polizei sei sofort gekommen, sagt Segal. Noch während die Polizei tätig gewesen sei, habe es aber einen zweiten Angriff gegeben. Ein Mann mit Palästinensertuch sei mit einem E-Roller durch die Absperrung durchgefahren, habe den Roller zu Boden geworfen und etwas aus seiner Tasche gezogen. Er sei sofort festgenommen worden.

Die Polizei bestätigte den Vorfall ihrer Presserklärung. Der 30-Jährige habe bei seiner Festnahme Widerstand geleistet und volksverhetzende sowie israelfeindliche Parolen gerufen. Nach einer Identitätsfeststellung sei er noch vor Ort entlassen worden.

Ausschreitungen In Neukölln und Mitte haben laut Feuerwehr Barrikaden, E-Scooter und ein Kinderspielplatz gebrannt. Demonstranten sollen auch versucht haben, zum Holocaust-Mahnmal zu gelangen, das habe die Polizei allerdings verhindert. Zudem hätten Menschen Gegenstände auf der Sonnenallee angezündet. Einsatzkräfte der Feuerwehr seien mit Pyrotechnik angegriffen, die Polizei mit Steinen beworfen worden. In Neukölln sollen laut Polizei teilweise vermummte Personen mehrfach Pyro gezündet haben.

Straftaten In Neukölln waren am Montagabend eine Frau und ihr Begleiter in der Weichselstraße mit Pyrotechnik beworfen worden, nach eigenen Angaben hatten sie Hebräisch miteinander gesprochen. In Moabit hatten Unbekannte am Montag vor dem dortigen Rathaus eine Israel-Flagge beschädigt. In Neukölln kam es bereits zu einem ähnlichen Vorfall. In Gesundbrunnen entfernte die Polizei eine verbotene Hisbollah-Flagge von einem Balkon.

Demos Die Polizei teilte mit, dass für Donnerstag und Freitag angemeldete Demos zur Solidarität mit Palästinensern in Neukölln und eine Kundgebung zum Andenken der Opfer im Gazastreifen in Mitte in Berlin verboten sind. Sie befürchten, dass es bei den Versammlungen zu volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen, Gewaltverherrlichungen sowie Gewalttätigkeiten kommen wird. Das Verbot gilt auch für alle Ersatzveranstaltungen, bis zum 27. Oktober. Die Initiative Palästina Kampagne kritisierte das Verbot. (mem)

„Wir sind sehr beunruhigt und sehr verängstigt“, berichtet Segal der Delegation der Linken. Bei jedem Schrei oder Tumult auf der Straße schrecke man hoch. Sie käme gerade aus dem Innenausschuss des Bundestags, erzählt die Linken-Abgeordnete Renner. Was man noch für den Schutz der jüdischen Community tun könne? Sie seien relativ gut geschützt, sagt der Vorsitzender der KAJ, Luybarsky. Aber es gebe eine Sicherheitslücke, was den Schutz des Gebäudes angehe. Der aktuelle Fall habe das gezeigt. Der alleinige Wachschutz sei nicht so trainiert, um Attentäter abzuwehren. Man werde das weitergeben an den Berliner Innenpolitiker Niklas Schrader, sagt Renner.

Bevor er mit Anna Segal und der Linken-Delegation in die Synagoge verschwindet, sagt Luybarsky noch das: „Wir bekommen viel an Teilnahme.“ Die jüdische Schule bleibe offen. „Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir möchten in Deutschland offen jüdisch leben.“

Am Dienstagabend hatten massive Polizeikräfte das Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Brandenburger Tors vor möglichen Übergriffen bewahrt. Die zuständige Stiftung für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas teilte mit, man habe nach propalästinensischen Demonstrationen im Umfeld das Stelenfeld ausreichend geschützt gesehen.