Kommentar von Barbara Oertel zu Prigoschins mutmaßlichem Absturz
: Der Arm des Kreml reicht in den Himmel

Kreml-Astrolog*innen haben wieder Hochkonjunktur. Im Kalten Krieg waren sie die Spezies Mensch, die die politischen Motive der sowjetischen Machthaber zu ergründen versuchte, um daraus Rückschlüsse auf deren künftige Schachzüge zu ziehen. Das war schon damals keine vergnügungssteuerpflichtige Tätigkeit, heutzutage ist sie das erst recht nicht.

Jüngstes Beispiel, das seit Mitte dieser Woche die Nachrichten beherrscht: Der Absturz eines Flugzeugs in der russischen Region Twer, in dem auch der Chef der Söldner-Truppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gesessen haben soll. Die Bandbreite der Analysen und Bewertungsversuche zeigt: Alle stochern im Nebel. Sie wissen, dass sie fast nichts wissen. Was ist die Ursache für den abrupten Sinkflug, der für alle zehn In­sas­s*in­nen mit einer tödlichen Bruchlandung endete? War Prigoschin tatsächlich an Bord? Dafür sprechen nicht zuletzt die floskelartigen Beileidsbekundungen von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der mit dem Schlächter Prigoschin spätestens seit dessen Meuterei im Juni mindestens eine Rechnung offen hatte. Dass diese jetzt auf Befehl von ganz oben beglichen worden sein könnte – dafür spricht einiges. Die Botschaft lautet: Der Arm des Kreml bzw. der „Organe“ reicht auch noch bis in den Himmel und nicht nur in die Teetasse oder – wie im Fall des vergifteten Alexei Nawalny – gar die Unterhose unliebsamer Kritiker*innen.

Dennoch bleiben viele Fragen offen: Wer profitiert vom Tod Prigoschins? Sind Putin und sein Regime gestärkt? Oder ist die absichtlich herbeigeführte Flugzeugkatastrophe ein weiteres Anzeichen für die fortschreitende Erosion eines Staates, in dem der Verteilungskampf um das Fell des Bären schon längst entbrannt ist?

Last but not least: Was bedeutet Prigoschins Ableben für Wagner? Die Vorstellung, dass Schwerstkriminelle, bewaffnet mit Maschinengewehren und Vorschlaghämmern, unkontrolliert durch Städte und Dörfer marodieren, ist keine erbauliche.

Die Chancen, dass viele Details dieses „Vorfalls“ nie ans Tageslicht kommen werden, sind groß. Dieses Vorgehen hat in Putins Russland Methode. Dort sind die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge fließend, ja ganz aufgehoben. Ziel ist es, nicht nur in der eigenen Bevölkerung Angst und Unsicherheit zu verbreiten, verbunden mit der klaren Ansage: Niemand kann sich seines Lebens sicher sein – nirgends.

Das ist zwar keine neue Erkenntnis, sie scheint aber hin und wieder in Vergessenheit zu geraten. Im Fall der Ukraine hätte das existenzielle Folgen. Denn für Friedensverhandlungen braucht es ein gewisses Maß an Vertrauen, zumindest jedoch Berechenbarkeit. Für beides steht Russland schon lange nicht mehr.