Die Wahrheit: Der transfinanzielle Mensch
Auf der Bank sitzen, mit den Stadtbewohnern ein Bier trinken und zuhören, was sie zu sagen haben über einfach alles. Eine Frankfurter Pittoreske.
S päter, um die Mittagszeit, saß ich mit Osama auf einer Parkbank in der Frankenallee. Die Sonne schien, wie sie nur im August scheint, und verwandelte die Blätter der Eschen und Robinien in kostbaren Ohrenschmuck aus Transparentpapier. Wir tranken Bier vom Wasserhäuschen gegenüber und hörten Pink Floyd. Die Musik hatte Osama damals, zu Hause in Marokko, gerettet. Ein Cousin hatte ihm, als er dreizehn war, eine Kassette mit dem Album „The Wall“ zugesteckt. Fortan hatte er kaum mehr etwas anderes getan, als „Comfortably Numb“ und „Is There Anybody Out There?“ und all die anderen Stücke zu hören.
Seine Familie hatte ihn für verrückt erklärt. „Die sind gegen das Government!“ hatten sie ihn zurechtweisen wollen, aber Osama war standhaft geblieben und hatte bald auch Dire Straits entdeckt. Seine Liebe zu Pink Floyd und dem Genie Mark Knopfler ist bis heute ungebrochen. Die Musik hatte ihn befreit, eine ganz neuartige Luft war plötzlich in ihn hineingeflossen.
Wir tranken die nächsten Biere und hörten „Telegraph Road“. „Mr. Roth“, sagte mein Freund Osama – Osama nennt mich immer Mr. Roth –, „Mr. Roth, diesen Tag werde ich nie vergessen.“ Seine Augen glänzten, vielleicht waren ein paar Tränen dabei.
Als ich am Morgen aufgewacht war, strömte nach zwei Wochen Dauerregen dieses Hochsommerlicht, an das wir fast keine Erinnerung mehr hatten, durch die Wohnung. „Da draußen ist ein Wetter!“, juchzte die schöne Frau, nachdem sie sich geräkelt und gestreckt hatte. Wir schauten „Mystery Train“ von Jim Jarmusch zu Ende, dann sagte ich: „Ich geh jetzt runter und trinke ein Bier zur Feier des Wetters.“
Kaum hockte ich auf einer der Holzbänke auf dem S.-Platz, kam Freund Lorenz an. Der dünne Mann hat endlich eine halbwegs anständige Unterkunft und erzählte mir, dass er am liebsten stundenlang aus dem Fenster gucke.
„Weißt du, Jürgen, du hast einen Bilderrahmen vor dir. Und in diesem Ausschnitt, den es einzig und allein in meiner Wohnung gibt, wirkt die Welt vollkommen stimmig.“ – „Genau das hat der Soziologe Georg Simmel geschrieben“, sagte ich. „Das Kunstwerk entsteht durch den Rahmen.“ – „Ja“, sagte Lorenz. „Auf der Straße liegt ein Pappdeckel. Es ist ein Pappdeckel. Wenn du ihn fotografierst, ist es ein Kunstwerk.“
Eine halbe Stunde später setzte sich die schöne Frau zu uns, und Lorenz sagte unvermittelt: „Ich bin transfinanziell. Ich bin ein Millionär im Körper einer armen Sau.“
Ich neige zu Verkrampfungen des Zwerchfells, doch die augenblicklich ausgelösten Lachschmerzen waren exorbitant. „Ich bin transklassistisch!“, rief die schöne Frau daraufhin aus und stieß die rechte Faust in die Höhe. „Ich bin eine Gutsdame im Körper einer subproletarischen Schauspielerin!“ Mir fiel kein Konter ein, aber ich weiß, dass durch dergleichen die Welt zu einem schönen Ort wird.
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