berliner szenen: Die Nana von Kreuzberg
Wochenlang campierte sie unter einem Balkon in meiner Straße. Das war ein umsichtig ausgesuchter Ort, denn er war offen und bot gleichzeitig Schutz. Der Hochparterrebalkon hängt etwa einen Meter über dem Boden und die ungefähr 2,5 m² große Fläche darunter bildet eine Einbuchtung entlang der Hauswand.
Schnell hatte sie eine Matratze, ein paar Decken und einen Berg an Klamotten aufgetrieben, denn genau dieser Krempel liegt in Berlin ja zuhauf herum. Und die gängigen Hygienevorstellungen juckten sie offenbar nicht weiter, so radikal wie sie dann auch eine Brandschneise aus Unrat um ihren Schlaf- und Ruheplatz zusammenmüllte.
Die Mieter der Balkonwohnung habe ich nie gesehen, aber sie werden wohl mit dem Lager der jungen Französin einverstanden gewesen sein, sonst wäre das nicht so lange gut gegangen.
Tags schlief sie, völlig entspannt den Blicken der Vorübergehenden freigegeben. In ihrer blassen Üppigkeit erinnerte sie mich an die berühmte Nana aus dem gleichnamigen Roman von Zola, einer Pariser Prostituierten Ende des 19. Jahrhunderts, die ein paar Jahre in Reichtum schwelgte. Wenn sie allerdings halbnackt an der Freebox nach Brauchbarem suchte, dachte man eher an die Nana, nachdem die Pocken sie verwüstet haben. Außer einer verfrühten Erschlafftheit ihrer Erscheinung waren es vor allem die schrundigen tiefen Rinnen in ihren Nasenlöchern, die auf einen harten Werdegang hindeuteten. Entschuldigend ließ sie einmal anklingen, dass sie anschaffen ginge.
Dann war sie plötzlich weg. Tauchte noch mal auf, in schlechtem Zustand, und war wieder weg. Irgendwann erbarmte sich der Straßenfeger auch ihrer Hinterlassenschaft. Aber wenn man an dem Balkon vorbeikommt, ist es immer noch so, als läge sie dort ausgestreckt in tiefem Schlaf. Katrin Schings
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