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Besuch in unserer untergegangenen Welt

Mit einer Vielfalt von szenischen Sprachen und Ansätzen nähert sich das rühmenswerte Jahrmarkttheater von Bostelwiebeck in dieser Spielzeit der Gegenwart aus der Zukunft

Von Jens Fischer

Es war einmal das Jahr 2023. Daran gibt es 2367 in einem dystopisch uniformen, von KIs smart gesteuerten Dasein keine Erinnerungen mehr. Die ganze Welt ist vom Zustand totaler Geschichtsvergessenheit ergriffen. Die ganze Welt? Nein! Ein von unbeugsamen 22 Künst­le­r:in­nen bevölkertes Anwesen im niedersächsischen Bostelwiebeck, Landkreis Uelzen, hört nicht auf, Widerstand gegen die vollendete Zukunft zu leisten. Sie ringen mit dem grausam-mechanischen Vergehen der Zeit, um Situationen, Dinge, Beziehungen, Verhaltensweisen vor der Vergessenheit zu retten.

In einer Landlust-idyllischen Hofanlage von 12.000 Quadratmetern haben sie ein Freilichtmuseum eröffnet, in dem archäologische Fundstücke des Jahres 2023 unter Glasglocken aufbewahrt und einige überlieferte Fotos ausgestellt sind. Andere Relikte stehen einfach so herum, eine Feuerschale ist beispielsweise als „Versammlungsort mit Beleuchtung“ ausgewiesen.

Als historisches Getränk kann Bier geordert werden, der Museumsshop offeriert Memorabilien wie gehäkelte Topflappen für 15 Euro, Ohrenstöpsel für 1 Euro. Das Publikum darf im Bewusstsein, 344 Jahre zurück ins Hier und Heute gereist zu sein, durch die Räume, Ställe, Scheune des Bauernhofes wandeln, in Keller steigen, frei über das Gelände flottieren und sich auf die Suche nach der „Spur des Verschwindens“ begeben, wie die aktuelle Sommerproduktion des sich Jahr für Jahr neu erfindenden Jahrmarkttheaters betitelt ist.

Gewarnt werden soll damit vor zerstörerischen Veränderungen und befürchtet wird das Verschwinden des denkenden, vorstellenden und darstellenden Subjekts durch Digitalisierung und Virtualisierung. Auch heutzutage noch lodernden Problemen wird gedacht, etwa dem motorisierten Individualverkehr, Klimawandel und Eurovision Song Contest. Dafür gaben die Theatermacher bei Chat GPT zwei Hits in Auftrag, die live gespielt so öde daherkommen wie die letzten Germany-zero-points-Desaster-Songs. Eine kleine Ausstellung im ehemaligen Schweinestall ist einem zukünftig verschollenen Material und seiner einstigen Verwendung gewidmet: Papier.

An einem Brunnen liegen Kopfhörer, aus denen „verhallende Melodien“ ausgestorbener Sprachen schweben. Entlang der Scheune ist auf einer Jahresachse vermerkt, wann etwa Kuscheltiere, Müll, High Heels, Krieg oder der Tod vom Erdboden verschwunden sind.

Das Museumsteam ist dem 2023er-Kinosommer gemäß in Barbie-Pink gekleidet und präsentiert auch Vermutungen über den einstigen Alltag der Menschen. Dazu haben die Kooperationspartner in ihrer jeweils eigenen Art szenische Miniaturen erarbeitet. Mit dabei sind Figurenspielabsolventinnen der HMDK Stuttgart, Dar­stel­le­r:in­nen und Re­gis­seu­r:in­nen vom deutsch-ukrainischen Theater Wheels aus Berlin und dem Byte Theatre Melbourne, das Joachim Matschoß leitet, Bruder des Jahrmarkttheater-Autors und -Regisseurs Thomas Matschoß.

Gar nicht überzeugen kann ein betont amateurhafter, klischeederber Comedy-Sketch mit Tollpatsch-Papa, Dauernörgel-Mama und vegan lebender, CO2-Verseuchungen schmähender Tochter, sodass der Aufbruch zum Flug in den Familienurlaub scheitert. So war das 2023?

Umso verblüffender anschließend die Schatten-, Marionetten- und Objektspielerei von Adeline Rüss und Anniek Vetter über das Verschwinden. An schlechten Tagen wie dem verregneten Premierenwochenende wird teilweise im Theatersaal im einstigen Kuhstall gespielt. Auch die Szene um drei Wesen, die sich ent­stressen wollen. Sie funktioniert im 360°-Panorama-Bühnenbild auf der Mauer des Anwesens im Anblick von Sonnenuntergang, Feld, Wald, Wiesen und martialischen Windrädern bestimmt bestens, kann atmen und in den Dialog mit der Umwelt treten, im kleinen Bühnenraum ersticken die Dialoge fast.

Bezaubernd hingegen, wenn unter freiem Himmel agiert werden kann. Etwa in einem aus Bäumen und Büschen erwachsenden, romantisch beseelten und anheimelnd illuminierten Naturgartenhäuschen, in dem Kristina Brons mit staunender Ergriffenheit durch einen Band der Goethe-Gesamtausgabe blättert und Seite für Seite durch Nichtgebrauch dahingeschiedene Worte entdeckt: abgeschmackt, Livree, fürderhin, gravitätisch oder Liebe, was aus der 2367er-Perspektive als so „eine Art Bauchweh“ beschrieben wird.

Kerzen flimmern, eine Darstellerin spielt Violine, die andere eine Kurzkopfgleitbeutler-Figur. Leicht und einfühlsam entwickelt sich Begeisterung für den in sattgrünvitalen Videobildern erstrahlenden Regenwald Australiens

Berührend gelingt ein Requiem für die blühende Pracht der Botanik. Blütenzeichnungen sind feierlich in Vitrinen drapiert, ein mit Mohn verziertes Flachsfeld erhebt sich in natura aus der Rasenfläche und Thomas Matschoß lädt zu genießerischer Stille beim Betrachten ein, tanzt freudig versunken durch den üppig wuchernden Garten und verweist schließlich auf ein herbeiwehendes Oratorium, mit dem Joseph Haydn höchst dankbar „Die Schöpfung“ mit Pauken und Trompeten feierte und eine ihr ungehemmt zugewandte Lebensfreude jubilierend zu Klang werden ließ.

Überragend die präzise Ensemblearbeit in einem winzigen Kellerraum: „Vom Sezieren des Vergessenen“. Kerzen flimmern, eine Darstellerin spielt Violine, die andere eine Kurzkopfgleitbeutler-Figur. Leicht und einfühlsam entwickelt sich die Begeisterung für den sattgrünvitalen Videobildern erstrahlenden Regenwald Aus­traliens als Heimat des nachtaktiven Säugetiers, aber auch die Wehmut über sein allmähliches Verschwinden schwingt mit, die Trauer über die koloniale Vergangenheit des Kontinents sowie die Wut über den damit losgetretenen Niedergang der indigenen Kultur. Beeindruckend, dass die Kritik nicht pastoral, sondern in einer stimmungsprallen Inszenierung daherkommt. Die entfaltet, beglaubigt von künstlerisch getragener Emotionalität die nötige Dringlichkeit entfaltet.

Mit all den Theatersprachen, Themen und genutzten Medien ist ein höchst diverser Abend entstanden, der mal albern, mal humorvoll, mal kauzig, mal bildstark atmosphärisch, mal literarisch, aber fast immer anregend über unsere Welt erzählt, die in immer kürzeren Abständen ihr Gesicht verändert. Auf der Spur des Verschwindens lassen sich die angedeuteten Schönheiten und Zweckmäßigkeiten der Gegenwart schätzen lernen.

Die Spur des Verschwindens, Jahrmarkttheater, Bostelwiebeck 24, 29575 Altenmedingen, wieder am 4.-6. und 11.-13. 8., jeweils 19.30 Uhr, Restkarten nur noch für 6. 8. auf jahrmarkttheater.de

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