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Die letzten Zeugen einer unverstrahlten Zeit

Die ökologische Apartheid der Gegenwart teilt sich in alten Flechtmatten der Marshall-Inseln ebenso mit wie die koloniale Vergangenheit. Das beweist eine Ausstellung eines Hamburger Museums

Von Petra Schellen

Es sind ja bloß Matten. Und nein, es sind nicht bloß Matten. Es sind hochkomplexe Flechtwerke, auch wenn sie zunächst nicht so wirken: dezent, fast unscheinbar hängen die mit braun-beigen Mustern überzogenen Matten aus Hibiskus- und Kokosfasern auf algengrünen Museumswänden. Sie stammen von den Marshall-Inseln im West-Pazifik, entstanden zwischen 1900 und 1940 und gehören zur Ausstellung „Lose Enden“ des Hamburger „Museums am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt (MARKK)“.

Wer mag, kann abstrahierte Vögel und Reptilien in die Muster hineinlesen, aber dahinter liegt mehr: Diese zunächst so „folkloristisch“ wirkenden, einst als Kleidungsstücke verwendeten Matten – von der hellen „weiblichen“ Mitte her gewoben und dann von einer „männlichen“ Bordüre eingefasst – zeigen Gesellschaftsschicht, Erbfolge und Segenswünsche an. Ganz streng reglementiert waren die Codes dabei nicht. Der oder die Flecht­künst­lerIn konnte auch selbst erfundene Symbole hinzufügen, deren jeweilige Deutung offen bleibt.

Das ändert sich erst, nachdem 1857 britische Kolonisatoren eine Missionsstation samt Schule auf Ebon errichteten, einer der über 1.000 zu Mikronesien gehörenden Inseln. Die heißen eigentlich „jolet jen Anij“ („Geschenke von Gott“). Ihr europäischer Name bezieht sich auf John Marshall, der die Inseln 1788 als erster Brite angesteuert und erstmals kartiert hatte.

Im puncto Kleidung agitierten die Missionare von Anfang an gegen die oberkörperfreien Matten, plädierten für Baumwollkleider. So verschwand die Kulturtechnik des Mattenflechtens im Laufe der Jahre weitgehend – und mit ihr die „biologisch abbaubaren“ Textilien.

Nur in Museen des globalen Nordens gibt es noch Matten, von den Kolonialmächten hergebracht. „Ausgezeichnete Leistungen sind die schönen Matten und die großen Kanus …“ steht noch heute auf der revisionistischen Homepage „deutsche-schutzgebiete.de“: 1885 besetzte das Deutsche Kaiserreich die Inseln, die dann 1906 Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea wurden.

Da waren deutsche Händler, die auf den lukrativen Handel mit dem aus Kokosnüssen gewonnen Kokosöl-Grundstoff Kopra zielten, längst vor Ort. Der Gifhorner Kaufmann Georg Eduard Adolph Capelle war 1859 nach Ebon gekommen, hatte eine Einheimische geheiratet und so Land für Kokosplantagen erworben. Ein vergilbtes Foto in der Ausstellung zeigt das Paar. 1873 folgte der Hamburger Kaufmann Johan Cesar Godeffroy. Auch er betrieb – nicht nur dort – Kokosplantagen, unter Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung.

Wie die Matten in das Hamburger Museum kamen, ist nicht ganz klar. Einige werden die Kaufleute mitgebracht haben, weitere jene Forscher, die im Zuge der Hamburger Südsee-Expedition (1908–1910) die deutschen Kolonialgebiete bereisten und erkundeten. Ein „gewaltvoller Erwerbungskontext“ kann laut Jamie Dau, Provenienzforscher des MARKK, zwar nicht nachgewiesen werden. Offen sei aber, ob die Aneignungen nach heutigen Maßstäben unter fairen Bedingungen stattgefunden hätten, sagt er.

Fest steht aber, dass die Matten als Wissensspeicher fungieren, und das in einer merkwürdigen zeitlichen Koinzidenz: Einerseits haben CO2-Einsparbemühungen sowie die Tatsache, dass in Coronazeiten keine Baumwolle importiert werden konnte, zu einem Revival der Flechttechnik auf den Marshall-Inseln geführt. Anderseits kam fast zeitgleich – 2021 – Meitaka Kendall-Lekka, Professorin für Business Studies am College of the Marshall Islands, für die Ausstellungsvorbereitung ins MARKK, um dort erstmals die „Jaki-ed“ genannten Matten zu begutachten.

„Es war ein tiefes Gefühl von Verantwortung, aber auch von Stolz und Traurigkeit“, schreibt sie in der Ausstellungsbroschüre. Es sei, „als ob unser kulturelles Erbe still und zeitlos in der Ferne darauf gewartet hätte, wiedervereint und willkommen geheißen zu werden“. Ihr erster Impuls sei gewesen, diese Dinge mitzunehmen. Aber sie erinnere sich auch „an die Erkenntnis und die Angst, dass die Gegenstände, wenn man sie nach Hause bringen würde, wahrscheinlich so gut wie weg wären“.

Auch ihre StudentInnen und andere MashallesInnen hätten ihr in einer Umfrage mehrheitlich gesagt, dass Inseln keine Kapazitäten hätten, diese Dinge angemessen aufzubewahren. Die Restitutionsfrage, schreibt Meitaka Kendall-Lekka, sei also noch offen.

Wenn man es zu Ende denkt, liegt hinter der Sorge, die Matten nicht angemessen zu bewahren, auch die Bedrohung durch den klimawandelbedingten Anstieg des Meeresspiegels: Die Marshall-Inseln liegen zwei Meter über Normalnull. Sie werden Forschern zufolge zwischen 2030 und 2050 überspült werden. Marshallesische PolitikerInnen appellieren deshalb seit Jahren an die Weltgemeinschaft, den Klimawandel einzudämmen. Ein Video der marshallesischen Künstlerin und Aktivistin Selima Leem im MARKK zeigt eine entsprechende Rede des damaligen Präsidenten Christopher Loeak auf der Pariser Klimakonferenz 2015. Und 2021 hat Tina Stege, Klimabotschafterin der Marshall-Inseln, den Hilferuf auf der Glasgower Klimakonferenz wiederholt.

Passiert ist wenig. Dafür wurde bekannt, dass die mit Beton überbauten Atommüll-Deponien auf dem Bikini-Atoll Risse bekommen – und ihr Untergrund nie abgedichtet wurde, sodass auch der Pazifik verseucht werden könnte. Der auch „Sarg“ genannte Betondeckel ist ein Relikt der Atombomben-Tests der USA, denen die UNO die Inseln nach 1945 als Treuhandgebiet überlassen hatte. In der Zeit bis 1958 zündeten die Vereinigten Staaten 67 radioaktive Testbomben auf dem Bikini- und dem Eniwetok-Atoll.

Die BewohnerInnen wurden auf benachbarte Inseln evakuiert – nicht weit genug, um der Radioaktivität zu entgehen. 20 Jahre später, in den 1970ern, wurde der Beton-Sarg gebaut. Ob man aus Nachlässigkeit oder absichtsvoll so lange wartete, ist offen. Das US-Energieministerium soll – so die Website „Atomwaffen A–Z“ des Bonner Netzwerks Friedenskooperative – 1977 notiert haben, die verstrahlten Menschen seien „die beste verfügbare Datenquelle zum Transfer von Plutonium, das von einem biologischen System durch die Darmwände aufgenommen wurde“. In der Tat haben Krebserkrankungen und Missbildungen bei Neugeborenen dort seither stark zugenommen.

Die marshallesische Künstlerin und Aktivistin Kathy Jetnil-Kijiner thematisiert das in ihrem Video „Anointed“ – was hier sowohl „gesalbt“ als auch „ermächtigt“ bedeutet. Im Mattenrock läuft sie über den Betonsarg, sucht Spuren der Vergangenheit. Beschwört die Unversehrtheit der Inseln – damals, als man die unverstrahlten Melonen und Kokosnüsse noch essen konnte.

Diese peripheren Inseln sind durch Kolonialismus, Atomwaffentests und Meeresspiegel-Anstieg dreifach geschunden

Dann kamen die Tests – mit Strahlung, Feuer, Hitze. Ein Atoll soll ganz verdampft sein damals. Und in dem verzweifelten Versuch, eine Erinnerung an das Davor, eine Rückbindung an die Vergangenheit zu finden, erzählt Kathy Jetnil-Kijiner die Legende von Letao, dem Sohn der Schildkrötengöttin. Er wurde von ihr gesalbt und ermächtigt, sich in alles zu verwandeln, sogar in Feuer. Das tat er, gab es einem kleinen Jungen, der versehentlich sein Heimatdorf verbrannte. „Und Letao lachte und lachte“, rezitiert sie.

Eine böse Legende. Unverkennbar die Parallele zu den Atomwaffentests. „Wer gab ihnen die Macht?“, fragt die Künstlerin. „Wer ermächtigte sie, uns zu verbrennen? Uns anzulügen: „Ihr seid nicht mehr verstrahlt. Eure Krankheiten sind normal.“

So verhöhnen Täter ihre Opfer, aber die wehren sich: Auf ihre Klage hin richten die USA 1986 einen Entschädigungsfonds ein. 2001 beschloss das Nuclear Claims Tribunal, dass die USA rund 1,1 Milliarden US-Dollar zahlen müssten. Der Fonds zahlte 300 Millionen und ab 2009 nichts mehr.

Was das alles mit den Matten zu tun hat? Sie sind nicht nur Auslöser dieser Recherchen, stehen für koloniale Vergangenheit und heutige Öko-Apartheid. Sie sind auch die einzigen Relikte der unverstrahlten Ära der Marshall-Inseln, die bald selbst vergangen sein werden.

„Lose Enden“, Museum am Rothenbaum, Rothenbaumchaussee 64, Hamburg, Di–So, 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr, bis 30. 7.

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