: Die Kleinstadt, die Violine und der Tod
Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kooperiert mit einer Gesamtschule im brandenburgischen Glöwen. Zehntklässler erarbeiten als Abschlussprojekt eine Performance zu klassischen Konzerten und treten damit am Gendarmenmarkt auf
VON NICOLE WELGEN
Glöwen ist eine Kleinstadt in der Mark Brandenburg. Etwas mehr als 1.000 Leute wohnen hier. Eigentlich hätte die Gesamtschule des Ortes wegen zu niedriger Schülerzahlen schon mehrfach geschlossen werden sollen – wie so viele Schulen in der Gegend. Dieser Kelch ging bisher aber an ihr vorüber, wohl auch, weil in Glöwen ein Sechstel der Schüler Lernschwierigkeiten oder Behinderungen hat. Die Ganztagsschule hat noch eine weitere Besonderheit: Sie ist die einzige Schule, die einen Partnerschaftsvertrag mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) abgeschlossen hat.
Begonnen hat die Zusammenarbeit mit Steffen Tast, Violinist des Orchesters. Vor zehn Jahren zog der gebürtige Berliner mit seiner Familie aufs Land, nach Klein Leppin. In dem Nachbardorf von Glöwen führten Tast und rund dreißig seiner Kollegen vor zwei Jahren unter Mitwirkung der damaligen Zehntklässler auf einem Dorffest den Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ des russischen Komponisten Modest Mussorgski auf. Begleitet wurde das Konzert auf dem Dorffest von einer Aufführung der damaligen Zehntklässler aus Glöwen. Die Direktorin der Gesamtschule war begeistert und drang darauf, die Kooperation zwischen Schule und Orchester zu festigen.
Seit vergangenem Jahr erarbeiten nun die jeweiligen Zehntklässler als Abschlussprojekt eine Performance. Sechs Monate lang beschäftigen sich die SchülerInnen im Deutsch-, Kunst- und Musikunterricht mit einem Werk und seiner Entstehungsgeschichte. In diesem Jahr wählten die drei zuständigen Glöwener Lehrerinnen Alban Bergs „Andenken an einen Engel“ aus. Mit dem Violinkonzert hatte der österreichische Komponist einer Tochter des Bauhaus-Architekten Walter Gropius ein Denkmal gesetzt, die kurz zuvor an Kinderlähmung gestorben war.
„Als Manon Gropius starb, war sie gerade einmal zwei Jahre älter als unsere Schüler“, erklärt Kunstlehrerin Heike Pörschke die Wahl des Stücks. „Erst im vergangenen Jahr ist eine Schülerin unserer Schule bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ihr Tod hat alle sehr betroffen gemacht.“ Es sei wichtig, dass sich die Jugendlichen mit dem Thema auseinander setzen, sagt Pörschke. Die Musik könne dabei helfen.
Die SchülerInnen haben sich darauf eingelassen. Bei der Probe des Sinfonieorchesters, der die Zehntklässler beiwohnen dürfen, ist tatsächlich nur Musik zu hören: Niemand flüstert, kichert oder albert herum. Zwei Tage später stehen die Jugendlichen dann selbst auf der Bühne – im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Ihre Performance ist Teil der Einführungsveranstaltung für die Aufführung von „Andenken an einen Engel“. „Sowohl die Konzertbesucher als auch die Musiker hat es beeindruckt und regelrecht gerührt, zu erleben, wie intensiv sich die Schüler mit dem Werk auseinander gesetzt haben“, sagt Steffen Georgi, der Dramaturg des Sinfonieorchesters.
Die Kooperation zwischen Schule und Orchester hat Erfolg – vor allem bei den beteiligten SchülerInnen. „Ich hatte keine Vorstellung davon, wie tiefgründig so ein Stück sein kann“, bekennt etwa der 17-jährige Alexander Kafidoff aus Glöwen. Seine Mitschülerin Mandy Anklam ist der gleichen Meinung. „Ich kann jetzt viel mehr mit dem Stück anfangen als vor einem halben Jahr“, erklärt die 16-Jährige. „Wir finden das alle ganz toll, dass wir so was machen dürfen.“ Und es hört sich nicht aufgesagt an.
Musik wirkt, auch in Kreuzberg. Veronika Peters, Lehrerin an der dortigen Eberhard-Klein-Oberschule, kann das bezeugen. Seit ihre Klasse am diesjährigen Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker (siehe Kasten) teilgenommen hat, sei der Zusammenhalt unter den Jugendlichen viel stärker. „Früher wollten muslimische Mädchen und Jungen auf keinen Fall nebeneinander sitzen. Jetzt stört sich niemand mehr daran“, berichtet die 55-Jährige. Vor allem vormals schüchternen Schülerinnen merke sie an, wie viel Selbstbewusstsein ihnen die Erfahrung, vor Zuschauern auf der Bühne zu stehen, gegeben habe.
Ihre Kollegin Heike Pörschke hat bei den Zehntklässlern aus Glöwen die gleiche Beobachtung gemacht. „Natürlich sind die Jugendlichen jetzt nicht alle Klassikfans geworden“, fügt die 45-Jährige hinzu. „Aber ich glaube schon, dass sie kulturelle Leistungen in Zukunft eher würdigen werden als vorher.“
Einen Klassikfan scheint es in der zehnten Klasse immerhin schon zu geben: Alexander Barwig. „HipHop ist keine Musik, sondern eine Lebenseinstellung“, hat der 17-Jährige mit Edding auf seinen Armeerucksack geschrieben. Dennoch scheut er sich nicht zu bekennen: „Erst vor kurzem habe ich meiner Mutter eine Mozart-CD gemopst.“