Als die Tiere den Wald verließen

Getrieben vom Klimawandel wandern Arten auf der ganzen Welt in Richtung der Pole und die Berge hinauf.
Die Menschen wollen ihnen dabei helfen, aber wie geht das?

Von Benjamin von Brackel

Camille Parmesan hatte einen ungeheuren Verdacht. Vier Tage hatte die Biologin von der Universität Texas hier in dieser verlassenen mexikanischen Wildnis nach einem Scheckenfalter gesucht, von dem sie dank Museumsarchiven wusste, dass er sich an jenen Orten einmal aufgehalten hatte. Sie fand in jenen Frühlingstagen 1993 die bevorzugte Wirtspflanze der Art, und noch nachts im Zelt träumte sie davon, wie sie Blatt für Blatt umbog, um auf der Unterseite nach Eiern und Raupen zu suchen – ohne Erfolg. Obwohl die Habitate einen intakten Eindruck machten, waren fast alle Populationen von Euphydryas editha verschwunden.

Mit ihrem alten Toyota-Bus fuhr die damals 31-Jährige die Westküste Nordamerikas über Monate hoch und runter. Und stellte fest, dass die Populationen des hitzesensitiven Scheckenfalters in Kanada meist erhalten geblieben waren, während sie im Süden der USA und in Mexiko vielerorts verschwunden waren. Hatte sie die ersten Auswirkungen des Klimawandels beobachtet? War sie Zeugin geworden, wie eine Tierart ihr Ausbreitungsgebiet über einen ganzen Kontinent hinweg in kühlere Gefilde verlagert? „Es war so einfach und klar“, erinnert sie sich im Rückblick.

Die Natur auf der Flucht“ heißt Benjamin von Brackels Buch, in dem er erklärt, wie Arten wegen des Klimawandels fliehen.

Bei dem Scheckenfalter blieb es nicht: Farne breiteten sich weiter oben auf den Alpengipfeln in Europa aus. Mexikanische Wühlmäuse verließen im Südwesten der USA ihre Habitate und kolonisierten Gebiete weiter im Norden. Und abseits der Küste Kaliforniens fand ein regelrechter Austausch der Fischgemeinschaften statt; während die Bestände der Kälte liebenden Arten abnahmen, nahmen jene der Wärme liebenden Arten aus dem Süden zu.

In Großbritannien zogen Vogelarten dauerhaft nach Norden, ebenso in den USA. Und in Kolumbien wurden Gelbfiebermücken erstmals auf einer Höhe von 2.200 Metern gesichtet.

Landbewohner ziehen im Schnitt 17 Kilometer pro Jahrzehnt weiter, Meeresbewohner 72

Parmesan und ihre Kolleginnen und Kollegen fanden heraus, dass hinter diesem merkwürdigen Verhalten ein Muster steckte. Ein uraltes Phänomen hatte eingesetzt, das seit Jahrmillionen Tiere und Pflanzen rund um den Erdball in Bewegung bringt, je nachdem, ob sich das Klima erwärmt oder abkühlt. Etwa alle 100.000 Jahre setzt auf der Erde eine Warmzeit ein und treibt die Arten in Richtung der Pole und die Berge hinauf. Dort suchen sie nach Abkühlung. Kühlt sich die Erde hingegen wieder ab, strömen sie in die andere Richtung.

Dieser lange Marsch der Arten ist nicht neu. Neu aber sind die Bedingungen, unter denen er stattfinden würde: Die Welt wurde vom Menschen in einen Flickenteppich verwandelt, überzogen mit Siedlungen, Acker- und Weideflächen, zerschnitten durch Straßen und Kanäle. Aus der Perspektive der Tiere und Pflanzen sind das Wüsten und Schluchten, mit denen der Mensch die Wildnis in ihre letzten Refugien gedrängt hat.

Dem Damhirsch könnte es zu heiß in Deutschland werden Foto: Mestel/Hecker/imago

Doch statt sich dort ohnmächtig ihrem Schicksal zu ergeben, wandern die Arten nun los. Ein uraltes Programm der Natur ist angelaufen – in Gang gesetzt durch den menschengemachten Klimawandel. Zehntausende Arten haben Biologinnen und Biologen inzwischen dabei beobachtet, wie sie sich auf den Weg gemacht haben. Von winzigen Kieselalgen bis hin zu Elefanten. Landbewohner ziehen im Schnitt 17 Kilometer pro Jahrzehnt weiter, Meeresbewohner sogar 72 Kilometer. „Das Überraschende ist, dass wir das auf jedem Kontinent und in jedem Ozean sehen“, sagt Parmesan, die heute am Nationalen Forschungszentrum in Toulouse arbeitet. „Es gibt keine Gegend auf der Erde, wo das nicht passiert, und es gibt keine Gruppe von Organismen, die nicht betroffen ist.“

Die australische Biologin Greta Pecl vergleicht die Wanderungen mit einem „lebenden Tsunami“, der über die Welt schwappt, vom Äquator nach Norden in Richtung Nordpol und nach Süden in Richtung Südpol. Dieser stellt eine ernsthafte Herausforderung für die Ordnung des Menschen dar – insbesondere für die Europäerinnen und Europäer: Ein wandernder Makrelenschwarm hat zwischen Island und der EU einen Handelskrieg ausgelöst; die Asiatische Tigermücke hat es bis nach Berlin geschafft und dürfte mittelfristig die Gesundheitsbehörden vor ernsthafte Pro-bleme stellen. Selbst unsere Wälder wandern infolge der steigenden Temperaturen und ordnen sich auf der Landkarte neu an.

Aber nicht alle Arten schaffen es, vor dem Klimawandel zu fliehen und sich in kühlere Gefilde abzusetzen. Viele sind zu langsam oder gelangen gar nicht über die Schluchten und Wüsten der Menschen. Stattdessen schrumpft ihr Habitat. Das gilt auch für mobile Arten, bei denen man es nicht erwartet, Hummeln zum Beispiel: In Europa und Nordamerika verlieren die pelzigen Brummer bereits ihre südlichen Lebensräume und haben sich im Schnitt schon 300 Kilometer nach Norden zurückgezogen, wie eine Science-Studie aus dem Jahr 2020 zeigt. Am nördlichen Ausbreitungsrand kommen die meisten Hummelarten nicht vom Fleck, sie können also die kühleren Gebiete nicht besiedeln. Warum das so ist, weiß niemand. Ökologen vergleichen das mit einem Teppich, der sich von Süden nach Norden einrollt.

Wenn irgendwann die thermische Schwelle der Tiere und Pflanzen überschritten ist und sie keine Chance mehr haben, der Hitze durch das Wandern zu entkommen, gehen sie zugrunde. Hunderttausende von Arten drohen deshalb auszusterben, sollte die Erderwärmung nicht unter zwei Grad Celsius begrenzt werden. Auch deshalb hat sich die Weltgemeinschaft auf dem Artenschutzgipfel in Montreal im Dezember 2022 auf ein Abkommen verständigt. Darin verpflichten sich die Länder, bis zum Ende des Jahrzehnts insgesamt 30 Prozent der Erdoberfläche mit Schutzgebieten zu bedecken – und damit die derzeitig geschützte Fläche fast zu verdoppeln. Die Schutzgebiete sollen miteinander vernetzt sein, ohne Hindernisse wie Betonwüsten oder Äcker, damit sich die Arten zwischen ihnen frei bewegen können. So könnten sie auf den Klimawandel reagieren – wie sie es seit Jahrmillionen tun. Bisher existiert das Vorhaben vor allem auf dem Papier, aber es gibt bereits Orte, die zeigen, dass das Konzept funktioniert.