piwik no script img

„Wir lassen es zu, dass nicht gerettet wird“

Während die Europäer an den Küsten des Mittelmeers urlauben, sterben täglich zahlreiche Menschen auf ihrer Flucht zwischen Afrika und dem reichen Norden

Von Dierk Jensen

„Ich hatte keinen blassen Schimmer wie schwierig diese Reise für mich werden würde“, erzählt der 21-jährige Akthar aus Bangladesch: „Ich harrte in Libyen über ein Jahr aus, lebte in einem Camp mit Leuten aus aller Welt. Wir waren zu neunt auf 10 Quadratmetern mit einer Toilette für über 200 Leute.“ Dann brachte man den jungen Mann mit anderen Verzweifelten auf ein seeuntaugliches Boot und stach damit ins Mittelmeer. Am Ende hatte er verdammt viel Glück, er ertrank nicht, überlebte und kam auf europäischem Boden an.

Das Schicksal von Akthar stehe stellvertretend für den Wahnsinn der „Sklavenhändlerindustrie“, die sich auf verschiedenen Fluchtrouten übers Mittelmeer entwickelt hat, so Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung der Organisation Pro Asyl. Derweil überschlagen sich die Meldungen von Geflohenen, die von Tunesien, Libyen oder Marokko aufs offene Mittelmeer treiben, um Europa zu erreichen. Immer mehr wagen diese Routen und damit steigt die Zahl der Toten. So sind an jedem Tag in diesem Jahr nach Schätzungen durchschnittlich sieben Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer gestorben; über tausend Menschen, die entweder an italienischen, spanischen, griechischen oder anderen Küsten tot angeschwemmt wurden oder auf dem offenen Meer tot in die Tiefe sinken.

Das ist ein Elend, eine Katastrophe, ein Desaster, ein menschlicher Abgrund. Und was macht die Europäische Union gegen diese unbeschreibliche Unsäglichkeit vor ihren Grenzen? Sehr wenig, erschreckend wenig. Und sie will sich trotz aller menschenrechtlicher Beteuerungen noch mehr abschotten, als sie es ohnehin schon macht.

„Wir befürchten, dass ähnlich wie auf den griechischen Inseln die beschleunigten Grenzverfahren dazu führen, dass der Schutzbedarf von Menschen, die aus dem Mittelmeer gerettet wurden, nicht erkannt wird“, merkt Felix Braunsdorf zu den aktuellen Verschärfungen des Asylrechts in der EU an. „Viele von ihnen sind traumatisiert, wurden Opfer von Folter oder haben einen anderen besonderen Schutzbedarf.“ Braunsdorf ist Politischer Referent von Ärzte ohne Grenzen, die mit ihrem eigenen Schiff, der „Geo Barents“, seit mehreren Jahren schon viele Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet haben. Allein im Mai 2023 hat das Schiff über 900 Flüchtlinge aus den Mittelmeerfluten retten können.

Für die einen ist das ein humanitärer „Erfolg“, für andere, wie die Regierung in Rom unter der Führung von Giorgia Meloni, ist es ein zu verhinderndes Ärgernis. Meloni und Co behaupten, dass die auf dem Mittelmeer aktiven Hilfsorganisationen weitere Flüchtlinge animieren, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Diese Theorie vom „Pull-Faktor“ mag Petra Krischok von SOS Humanity nicht mehr hören. „Dies wird immer wieder von vielen behauptet, aber sie ist mehrfach wissenschaftlich widerlegt worden ist“, winkt Krischok ab.

Sie berichtet, dass der Crew auf ihrem Schiff „Humanity 1“ ein eisiger Gegenwind seitens der italienischen Behörden entgegenweht. „Wir müssen mit den aus Seenot Geretteten derzeit Häfen ansteuern, die weit im Norden Italiens liegen. Diese absichtliche Schikane verlängert die Fahrzeiten unseres Rettungsschiffes um mehrere Tage, die wir für die Rettung vor Ort verlieren“, kritisiert sie. Ganz abgesehen davon sind die längeren Strecken umweltschädlich und gehen aufgrund gestiegener Preise für Treibstoffe ziemlich ins Geld“, ärgert sich Krischok über die Vorgehensweise der Italiener. Karl Kopp von Pro Asyl bringt es auf den Punkt: „Es existiert eine Gleichgültigkeit gegenüber den über das Mittelmeer Flüchtenden.“

Das ist auch insofern bemerkenswert, als dass seit dem Beginn der russischen Invasion über eine Millionen Menschen aus der Ukraine allein in Deutschland Zuflucht finden konnten. Zum Vergleich: Im letzten Jahr flohen rund 65.000 Menschen übers Mittelmeer. „Verglichen mit anderen Fluchtbewegungen kann also gar nicht von dramatisch angestiegenen Fluchtzahlen gesprochen werden“, mahnt Kopp im Namen von Pro Asyl an, dramatisch seien dagegen die Todeszahlen von allein in diesem Jahr über 1.000 Menschen.

Entsetzt ist Kopp daher von der Haltung der grünen Außenministerin Annalena Baerbock, die ihre im Koalitionsvertrag fixierte Kurskorrektur der bisherigen, gescheiterten Flüchtlingspolitik aufgegeben zu haben scheint. Statt die Italiener zu kritisieren, setzt die grüne Außenministerin auf den Ausbau von Kooperationsabkommen mit vermeintlich sicheren Drittstaaten wie Libyen.

Unmut über diese Position gibt es genau deshalb innerhalb der Grünen, aber auch in Teilen der SPD-Bundesfraktion; nicht zuletzt auch deswegen, weil die libysche Wasserschutzpolizei die Aufgefischten dahin zurückbringt, woher sie gekommen sind: in Camps, in denen unmenschliche Verhältnisse herrschen.

Deshalb fallen in den Reihen der Hilfsorganisationen deutliche Worte: „Die EU-Staaten und -Institutionen müssen ihre politische und materielle Unterstützung für die libysche Küstenwache sofort einstellen und dürfen erzwungene Rückführungen nach Libyen nicht länger unterstützen“, fordert beispielsweise Felix Braunsdorf.

Die Zahlen sprechen indes für sich. Allein Ärzte ohne Grenzen hat seit 2015 mit mehreren Schiffen über 80.000 Menschen vor dem Ertrinken retten können. Trotz ihrer und Anstrengungen anderer Akteure sind seit den vergangenen acht Jahren rund 25.000 Tote zu beklagen. „Wir lassen es zu, dass nicht gerettet wird“, zieht Karl Kopp ein lakonisches Fazit.

Kopp muss sich arg zusammenreißen, um nicht zynisch zu werden angesichts einer Situation, bei der der edle Anspruch eines demokratischen, weltoffenen und Menschenrechte verteidigenden Europas von Ursula von der Leyen und anderen EU-Entscheidern zwar kakophonisch daherkommt, aber die Wirklichkeit in eine andere Richtung zeigt.

Das gilt auch für die aktuelle Politik der Ampelkoalition, die sich nicht mehr an das hält, was der Koalitionsvertrag festgeschrieben hat. „Was ist das jetzt, etwa eine Asylwende?“, fragt Kopp provozierend. Unterdessen sitzen Afghanen, Eritreer oder Bangladescher nach unglaublichen Strapazen auf dem Mittelmeer in gefäng­nis­ähnlichen Unterbringungen, von wo aus sie oftmals abgeschoben werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen