: Hamburgs wachgeküsste Bau-Moderne
Wiederentdeckung eines prägenden Bauherrn: In Hamburg wird an den Architekten Karl Schneider erinnert, vor rund 100 Jahren der vielleicht fortschrittlichste Vertreter seiner Zunft
Von Bettina Maria Brosowsky
Jahrzehntelang war er vergessen. Aber so langsam beginnt Hamburg einen großen Architekten der klassischen Moderne neu schätzen zu lernen: Karl Schneider (1892–1945). Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn im diesjährigen „Architektursommer“ gleich mehrere Programmpunkte in Zusammenhang mit Schneiders Werk und Person stehen. Da wären etwa die illuminierten Licht-Kunstwerke von Birgit Dunkel, die mit einer Foto-Auswahl von 16 Bauwerken Schneiders im öffentlichen Raum touren. Einer der temporären Standorte: vor Schneiders einstigem Wohnhaus in der Grünewaldstraße 11, Bahrenfeld. Den Bau ließ Schneider 1928 für seine Familie errichten, er ist Stein gewordene Biografie – und Zeugnis der zwiespältigen Rezeption, die Schneiders Werk erfahren hat.
Geboren in Mainz, kam der Architekt nach der Ausbildung an der dortigen Kunstgewerbeschule über Stationen beim späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius sowie bei Peter Behrens, beide Berlin, Ende des Ersten Weltkriegs nach Hamburg ins Büro von Fritz Höger. 1921 machte sich Schneider selbständig – als eigenständiger Außenseiter, rastlos schaffend bei bescheidener Auftragslage, genialer Zeichner und Verfasser mutiger Wettbewerbsbeiträge. Er war aber, glaubt man zeitgenössischen Berichten, nur wenig interessiert an bautechnisch-konstruktiven oder finanziellen Belangen.
Die zweite Hälfte der 1920er Jahre brachte so etwas wie einen Durchbruch, insbesondere Schneiders Gewinn beim Wettbewerbs für die Großwohnanlage Jarrestadt in Winterhude nach städtebaulichen Vorgaben von Oberbaudirektor Fritz Schumacher im Jahr 1926: Plötzlich war er einer der meistbeschäftigten Architekten Hamburgs, in rasantem Tempo entstanden elf große Wohnanlagen, dazu Einzelhäuser, Industrie- und öffentliche Bauten, Umbauten oder Einrichtungen; ferner neun weitere, unausgeführt gebliebene, umfangreichen Projekte.
Der progressivste Architekt der Stadt war Schneider sowieso: ohne lokalpatriotische Anbiederung, auch nicht an den Umgebungskontext. Das eigene Haus in der Bahrenfelder Grünewaldstraße entstand ein Jahr nach einem großen Wohnhaus in der direkten Nachbarschaft, gebaut für den Architekturpublizisten Rolf Spörhase: zwei kubisch-kühle, demonstrativ moderne weiße Putzbauten mit Dachterrasse. Für beide musste Schneider seine Verbindungen bemühen zu Gustav Oelsner, Schumachers Amtskollegen in der damals noch selbständigen Stadt Altona. Beim eigenen Haus stellte er die Behörden mit einem fertigen Erdgeschossrohbau sogar vor vollendete Tatsachen und nutzte obendrein Auslegungen im Baurecht für ein drittes Teilgeschoss mit Atelier und markantem Flugdach.
International wahrgenommen und publiziert wurde Schneider 1932, neben Otto Haesler aus Celle, als einziger Vertreter Norddeutschlands in der Ausstellung „The International Style“ im New Yorker Museum of Modern Art. Sein radikalmoderner Umbau einer Gründerzeitimmobilie für den Hamburger Kunstverein spielte nun in derselben Liga wie Le Corbusiers Villen oder das Dessauer Bauhausgebäude.
Bereits 1930 hatte ihn allerdings die Weltwirtschaftskrise erwischt, Aufträge brachen weg. Unter dem NS-Regime verlor Schneider dann 1933 seine Professur an der Landeskunstschule, die Ehe scheiterte, 1935 wurde das viel beachtete Wohnhaus verkauft. Die Liaison mit einer jüdischen Fotografin wurde ruchbar, Schneider folgte ihr 1938 ins Exil nach Chicago, wo er als Architekt aber nicht mehr Fuß fassen konnte und mit nur 53 Jahren verstarb.
Die beiden benachbarten Wohnhäuser wechselten mehrfach die Besitzer, erlitten Kriegsschäden, verkamen nach 1945. Schneiders Dachterrasse wurde zugebaut, wenngleich mit einer reversiblen Holzkonstruktion. Bis vor wenigen Jahren diente das einst so markante Gebäude als zimmerweise vergebene Flüchtlingsunterkunft, seine Lage ist bedrückend eingeengt durch die hier offen durch die Stadt geschlagene Autobahn 7; hieran könnte die kommende Überdeckelung der Autobahn etwas ändern.
Nach Interventionen der im Dezember 2015 gegründeten „Karl Schneider Gesellschaft“ wurde der Denkmalwert des Hauses dann immerhin offiziell anerkannt, vor kurzem hat es ein Hamburger Architekt erworben. Akribisch hat er es in weiten Teilen auf den bauzeitlichen Zustand zurückgeführt, auch die Dachsituation und intensiven Farbfassungen. Langfristig soll es für kulturelle Nutzungen geöffnet werden.
Eine Art Vorspiel: Derzeit sind die Erdgeschossräume selbst Exponat einer Ausstellung. Die seinerzeit wichtige, viel gelesene Stuttgarter Zeitschrift Moderne Bauformenwird nach der Repräsentanz Hamburger Bauens in den 1930er-Jahren befragt. Die bewusste Engführung auf Publikation, Stadt und Zeitspanne, so Mitorganisatorin Sabine Kock vom Hamburger Architekturarchiv, sichtet die baukulturelle Position der Hansestadt unter dem NS-Regime, das an der Elbe ein Monumentalbauprogramm realisieren wollte.
1932 schien die titelgebende Moderne noch vergleichsweise in Ordnung: Tankstellen von Karl Schneider wurden neben einem kargen Wochenendhaus des Architekten Gottfried Schramm vorgestellt, das in seinen extremem Proportionen Schneiders Wohnhäuser wohl zu überbieten trachtete. Wenig verwunderlich, wenn Schneider dann 1938 in einem Sonderheft zu Hamburg nur noch bei den Großwohnanlagen Erwähnung findet.
Und noch weniger verwunderlich, wie anschlussfähig sich Architekten wie Schramm und sein Partner Erich Elingius durch Hamburgs Bauschaffen manövrierten: Ein süddeutsch angehauchter NS-Heimatstil für zeittypische Einzelwohnhäuser schien ihnen ebenso locker aus der Feder zu fließen wie in den 1950er-Jahren dann ein geradeheraus auftretender Wirtschaftswunder-Funktionalismus, etwa im Produktionsgebäude der Konsumgesellschaft. Für solche Erkenntnis muss man allerdings die Monographie zum fotografischen Chronisten all der Jahre, Ernst Scheel, zu Rate ziehen: Der Band war 2015 ein wichtiger Baustein des damaligen Hamburger Architektursommers und trug auch bei zur Rehabilitation Karl Schneiders.
Ausstellung „‚Moderne Bauformen‘ in Hamburg in den 1930er Jahren“: bis 11. 6, Hamburg, Karl Schneider Haus, Grünewaldstraße 11. Begleitpublikation des Hamburger Architekturarchivs, 142 S., 15 Euro
Führung Karl Schneider Haus (mit Peter Dinse, Architekt; Eberhard Taube, Denkmalschutzamt): Mi, 14. 6., 16 Uhr; zurzeit ausverkauft, Infos: www.akademie-der-kuenste.de/veranstaltungen
10. Hamburger Architektursommer„Zwischen Ökologie und Baukunst“: www.architektursommer.de
Karl Schneider Gesellschaft: www.karl-schneider.org
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen