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Selbstfindung nach der Dekonstruktion

Das Theater wie seine Kritik spüren im Zeitalter der neuen Medien einen Schwund seiner Daseinsberechtigung. Braucht es dagegen eine radikale Repolitisierung oder mehr Uneindeutigkeit auf der Bühne? Der Weg ins Offene steht dem Theater zumindest immer noch frei

Lars Eidinger als Richard III. in Thomas Ostermeiers Inszenierung an der Berliner Schaubühne Foto: Arno Declair

Von René Hamann

Kürzlich im Kino gewesen, es wurde viel geweint. In dem Dokumentarfilm „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“ (Regie: Reiner Holzemer, D 2022) ging es naturgemäß viel ums Theater, schließlich ist Eidinger ein neuer deutscher Großschauspieler, dessen Ruhm sich in der Hauptsache seiner Darstellung des Hamlet an der Berliner Schaubühne verdankt. Im Jahr 2022 durfte er den „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen geben – mit die höchste Ehre, die man als Bühnenschauspieler auf deutschsprachigen Bühnen überhaupt erreichen kann.

Es wurde also viel geweint, weniger im Publikum, mehr auf der Leinwand. Bei den Proben zum „Jedermann“ hatte Eidinger einen besonders dramatischen Moment. Er reagierte unwirsch darauf, nicht die volle Aufmerksamkeit der Regie während der Proben zu erhalten. Dann wurde geschrien, im Anschluss daran auch viel geheult.

Schreien, weinen, das scheint dazuzugehören, wenn es ums Theater geht. Aber auch bei der Darstellung des Manns, seiner Gefühlswelten, das sagt Eidinger explizit, das ist auch die Kernaussage des Films: Demnach ist Eidinger so etwas wie der Prototyp des neuen deutschen Manns; ein Mann, der Schwäche zeigt und deswegen auch verlassen wird wie die Figur, die er in Maren Ades Film „Alle anderen“ spielt. Ein Mann, der seine Gefühle zeigt und auslebt. Weshalb wie im Film so auch im Theater viel Nacktheit und viel Körperflüssigkeit zu sehen ist. Blut, Schweiß, Tränen – das Schauspiel als Exzess, als Katharsis.

Dass Eidinger dafür auch in Rollen schlüpft, die sich das körperliche Schicksal anderer aneignen, die nicht so privilegiert sind, hat ihm eine Menge Kritik beigebracht. Hamlet mit Tourette, Richard III. als körperlich beeinträchtigt, nun ja (beide Stücke sind mit Lars Eidinger im Sommer in der Berliner Schaubühne zu sehen). Kann man auch billig finden, diese Aneignung, und moralisch lange nicht mehr korrekt. So gesehen steht Eidinger schon fast für die vorletzte Generation: Die erste, die ein neues Männerbild durchprobiert hat; und die letzte, die damit durchgekommen ist. Demnächst, so Eidinger prophetisch in der Doku, „kann man sich nur noch selbst spielen. Als das, was man ist.“

Könnte gut sein, dass er damit recht hat. Und das Theater vor einem neuen Problem steht: einem Wiederfindungsprozess nach der eigenen Dekonstruktion. Im Moment steht (noch) die Identität im Vordergrund, nicht mehr die Suche danach; und Mehrheitspositionen wie von Männern, so gebrochen sie auch daherkommen, sind nicht unbedingt von Interesse.

Über die Verhältnisse, die an deutschen, österreichischen, schweizerischen Bühnen herrschen, ist viel geschrieben worden. Es gab reichlich Skandale – alle mehr oder minder identitätspolitisch bedingt. Es gab Rassismusvorwürfe, Sexismusdebatten, Vorwürfe des psychischen Missbrauchs; es gab am Wiener Burgtheater einen Starschauspieler, der nach langer Deckung durch die Theaterleitung als Sammler pädophiler Pornografie auffällig wurde.

Es gab aber auch Gegenkräfte gegen den Zeitgeist – so in Zürich, wo das mutige, aber zu bubblezentrierte Wirken des Intendantenduos Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann am Schauspielhaus ein eher unrühmliches Ende fand. Oder, wie Simon Strauss in der FAZ nachtrat, „selbst die moralpolitisch ambitionierte Züricher Stadtregierung“ habe „das Vertrauen in die Anziehungskraft des radikal erneuerten Schauspiels verloren“. Dabei war es, um ganz genau zu sein: das Publikum, das dem Duo dieses Ende bereitete. Das stimmte nämlich mit den Füßen gegen das progressive Theater. Indem es sukzessive fortblieb.

Obwohl, lag es wirklich an der „moralpolitischen“ Ausrichtung? Oder ist das Theater auch hier nicht wieder grundsätzlich in der Krise?

Der Wiener Feuilletonist Matthias Dusini stellt im Falter erleichtert fest, dass die rückläufigen Besucherzahlen mittlerweile im deutschsprachigen Theater ein Ende gefunden haben und es wieder aufwärts geht. Die Talsohle sei durchschritten. Dennoch bleibt das Theater als Freizeitoption eher auf den mittleren Plätzen. Der Unterschied zwischen E und U sei zwar aufgehoben, so Dusini, allerdings nur in eine Richtung: So hat der klassische Bildungsbürger mittlerweile kein Problem mehr, ein Fußballspiel, ein Musical oder ein Popkonzert zu besuchen; umgekehrt finden die Bäckereifachverkäufer oder die Reinigungskräfte partout nicht den Weg ins Theater. Die von Bourdieu festgestellten „feinen Unterschiede“ wirken noch.

Also was tun, das Theater nach unten hin öffnen? Milo Rau, bald Intendant der Wiener Festwochen, versucht es mit postkolonialem Vor-Ort-Theater (mit „Antigone im Amzonas“, wofür er mit der Landlosenbewegung kooperiert). Spannende Frage, was er mit diesem Ansatz aus der gemütlichen österreichischen Hauptstadt machen wird. Regisseur Herbert Fritsch versucht es dagegen mit Komik, bleibt aber da bei Weitem der Einzige, der auch mal einen alten Schwank inszeniert; natürlich immer noch so, dass etwa das Ohnesorg-Theater-Publikum in Hamburg damit nichts anzufangen wüsste.

Im Moment steht im Theater die Identität im Vordergrund, nicht mehr die Suche danach

Dazu kommt eine gewisse Kritikresistenz, wenn nicht gar eine Abkehr von der Kritik, wie sie am Dackelkacke-Vorfall in Hannover nur am augenscheinlichsten wurde. „Das Theater kümmert sich um alle möglichen relevanten Themen, aber der Spielplatz ist kleiner geworden“, wie der Tagesspiegel resümiert; das Theater wie seine Kritik spüre den Schwund seiner Daseinsberechtigung. Die neuen Medien – vom Netz über KI bis zum nonlinearen Fernsehen – laufen dem Theater längst den Rang ab. Pluspunkt bleibt allein die Präsenz. Die körperliche, echte Echtzeitpräsenz.

Tatsächlich wird sich das Theater wieder einmal neu entscheiden, neu erfinden und aufstellen müssen. Die Zeiten, wo von der Volksbühne ausgehend eine Erfrischung ausging, die darin gipfelte, dass René Pollesch ein Stück „I Love You, But I’ve Chosen Entdramatisierung“ nennen konnte, sind schon eine Weile vorbei. Die Frage ist, wohin: Bleibt das Theater im Erstarrungsmodus? Ist der Weg der radikalen Repolitisierung der Richtige, wenn eh immer nur dieselben sich das anschauen, ein reines Bestätigungs- und Selbstbestätigungstheater? Patrick Wildermann konstatiert dem Theater in derselben Ausgabe des Tagesspiegels eine fortschreitende Scheu vor dem „Uneindeutigen“. Haltung ist die neue Vieldeutigkeit. Auch das ist ein Problem.

Kann am Ende sein, dass all diese Probleme gar nicht so neu sind. Der Weg ins Offene steht dem Theater immer noch frei. Irgendwer muss nur den ersten Schritt machen.