Fatma AydemirRed Flag
: Jetzt wird es hässlich: Geflüchtete als Sündenbock

Foto: Bradley Secker

Können in einem undemokratisch regierten Land demokratische Wahlen abgehalten werden? Bei den am nächsten Wochenende in die Stichwahl gehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei gibt es immer noch Hoffnungen auf einen Regierungswechsel – auch wenn die Voraussetzungen für die Kandidaten alles andere als gleich sind. Im April sollen laut einer Erhebung im Staatsfernsehen TRT dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen 32 Minuten.

Dass die Pressefreiheit im Land seit Jahren schon dramatisch eingeschränkt wird, hat zur Folge, dass es zudem kaum Zugänge gibt zu kritischen, faktenbasierten Nachrichten in der eigenen Sprache über die politische Realität im Land. Wie überall auf der Welt wirken sich natürlich auch in der Türkei vor allem Social-Media-Bubbles auf das Wahlverhalten vieler Bürger_innen aus. Doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, existiert so gut wie keine unabhängige Presse mehr, an der Fake News und Propaganda abgeglichen werden könnten. Sprich: Fake News sind die News. Kritische Berichterstattung ist dagegen – sobald sie ein größeres Publikum erreicht – ein Fall fürs Gericht.

Dass Propaganda sich am besten durch dokumentierte Zahlen und Fakten zerlegen lässt, daran glaubt in der Türkei also niemand mehr. Und so verstrickt sich auch die Opposition zunehmend in frisierten Wahrheiten im Zuge plumper Wahlversprechen, die bei der Stichwahl am 28. Mai ins Gewicht fallen könnten. In einer Rede am Donnerstag etwa versprach Kı­lıç­dar­oğlu, er werde, sollte er im zweiten Wahlgang gewählt werden, „alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt.“ Im Satz vorher behauptete er, Erdoğan habe 10 Millionen Geflüchtete ins Land gelassen, eine Zahl, die die ohnehin rassistische Stimmung in der Gesellschaft weiter anheizen soll. Fakt ist: Die ­UNHCR geht von derzeit 3,9 Millionen Geflüchteten aus, die in der Türkei leben sollen, allein 3,6 Millionen von ihnen aus dem Nachbarland Syrien. Sicherlich wird es eine Dunkelziffer undokumentierter Geflüchteter geben, 10 Millionen erscheint aber unrealistisch.

Nächste Woche schreibt Erica Zingher die Wechsel­kolumne Grauzone.

Seit Jahren schon wendet sich der Unmut der Bevölkerung über Wirtschaftskrise, Korruption und Arbeitslosigkeit mehr gegen geflüchtete Menschen, als gegen die politisch Verantwortlichen für diese Probleme. Die Rhetorik der Opposition verbindet nun das Potenzial dieser rassistischen Grundstimmung mit der Kritik an der AKP-Regierung: Erdoğan hat euch die Flüchtlinge gebracht, ich werde euch von ihnen befreien, geht der Duktus. Man mag das als letzte erfolgversprechende Strategie erkennen, im Kampf um den 5,1-Prozent-Stimmenanteil des rechtsextremen Kandidaten Sinan Oğan aus dem ersten Wahlgang. Dieser wird bei der Stichwahl neu verteilt und entscheidend sein. Allen Beteiligten ist klar: Jetzt wird es hässlich. Kılıçdaroğlu braucht im Grunde jede einzelne Stimme, die im ersten Wahlgang an den drittstärksten Kandidaten ging, um noch gewinnen zu können.

Auch die Opposition setzt auf Hetze und frisierte Zahlen

Zugleich ist die Anti-Flüchtlings-Parole nicht einmal ein Kurswechsel, wo doch ultranationalistische bis rechtsextreme Flügel in beiden Allianzen einflussreich sind. Dass Kılıçdaroğlu zugleich auf die Wählerstimmen der prokurdischen Linken Yeşil Sol (ehemals HDP) zählt, mag den Rechten ein Dorn im Auge sein, aber in der Hoffnung, Erdoğan abzuwählen, das geringere Übel. Hass auf schutzbedürftige Menschen aus Syrien wiederum erscheint als einziger Kitt, der fast alle politischen Lager der Türkei zusammenhält. Und so betreibt eben auch eine sich als „progressive“ verstehende Opposition Hetze auf Geflüchtete, um deren Lebensbedingungen es unter Erdoğan sowieso sehr schlecht steht. Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern vielleicht die einzige Möglichkeit bei der Stichwahl besser abzuschneiden.