Das Leid von Gehörlosen ist oft noch unsichtbar

Bis in die 1980er-Jahre wurde Gebärdensprache unterdrückt. Der Sozialausschuss in Hamburg diskutierte jetzt die Folgen. Senat soll bei Ausgleich vorangehen, fordert Linke

Wurde lange unterdrückt und synchronisiert jetzt sogar mal den Polizeiruf: Gebärdensprache Foto: Hendrik Schmidt

Von Franziska Betz

Wie ist die Situation von gehörlosen Se­nio­r*in­nen in Hamburg? Und werden diese wirksam für das ihnen angetane Leid entschädigt? Darüber wurde am Donnerstag in der Sitzung des Hamburger Sozialausschusses diskutiert. Der Vorsitzende Michael Gwosdz (Grüne) begrüßte die Anwesenden in einem „für uns etwas ungewöhnlichen Setting“. Denn die Sitzung wurde vor Ort und im Livestream von Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzt.

Die rund 50 anwesenden Interessierten füllten den Zu­schaue­r*in­nen­raum auf der Empore des Sitzungssaals voll aus. Eine Mehrzahl von ihnen war gehörlos. Im Saal wurde über zwei große Anfragen der Linksfraktion zur Entschädigung von Gehörlosen, die Unrecht erfahren haben, und zur Situation von gehörlosen Se­nio­r*in­nen heute diskutiert.

In ihrem Eingangsstatement legte Cansu Özdemir (Linke), die die Anfragen zum Thema gestellt hatte, dar, „warum es auch heute noch wichtig ist, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen“: Seit 1880 war auf Beschluss des Mailänder Kongresses – einer internationalen Zusammenkunft von hörenden Gehörlosen-Lehrer*innen – die Gebärdensprache systematisch unterdrückt worden.

Mit der „Deutschen Methode“, welche bis in die 1980er-Jahre praktiziert wurde, sollten gehörlose Kinder „normal“ gemacht werden, indem ihnen unter Zwang Lippenlesen und die Lautsprache beigebracht wurde.

„Ungefragt und auch gegen den Willen der Kinder wurde ihnen zum Beispiel am Mund ‚herumgefingert‘, an den Wangen gezogen oder es wurden Gegenstände in den Mund eingeführt und bewegt“, heißt es in der Anfrage der Linken.

Die Kommunikation mit Gebärden wurde als „Gefuchtel“ abgewertet, verboten und unter Strafe gestellt. Die Folge war, laut Özdemir, sprachliche Deprivation – also der Entzug von Sprache, der bei Kindern in der Gehirnentwicklung dazu führen kann, dass die für die Sprache wichtigen Systeme nicht ausgebildet werden.

„Das Unrecht wirkt bis heute fort“, sagte Özdemir und legte dar, dass gehörlose Menschen so keine guten Kompetenzen sowohl in Gebärden- als auch Lautsprache erlernen konnten. In der Folge seien sie von akademischen und höher bezahlten Berufen ausgeschlossen gewesen, hätten heute niedrigere Renten und seien „auffällig“ von Armut betroffen.

Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) widersprach und wollte nicht von „auffälliger Armut“ sprechen. In der Antwort des Senats hatte dieser mitgeteilt, das 64 gehörlose Ham­bur­ge­r*in­nen Grundsicherung im Alter erhalten.

Die Zahl sei aber höher, sagte Özdemir der taz. Das habe der Gehörlosenverband ihr mitgeteilt. Zudem bekämen nicht alle von Armut betroffenen älteren Gehörlosen die Grundsicherung, da alleine der notwendige Antrag für einige eine Hürde darstelle, die sie ohne Assistenz nicht überwinden könnten.

Ein weiterer Diskussionspunkt war die Entschädigung von Gehörlosen, die in ihrer Kindheit und Jugend Unrecht erfahren haben. Menschen, die von 1949 bis 1975 in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe untergebracht waren und dort Unrecht erfahren haben, konnten über die Stiftung Anerkennung und Hilfe eine Entschädigung beantragen. Für die Zeit ab 1976 gilt das Opferentschädigungsgesetz (OEG) – ein Bundesgesetz, über das Betroffene Ansprüche einklagen können.

Das Problem: Um nach dem OEG Ansprüche geltend machen zu können, muss ein „vorsätzlich rechtswidriger tätlicher Angriff“ passiert sein. „Im Falle (rein) psychischer und kultureller Gewalt liegen in aller Regel keine tätlichen Angriffe vor, sodass sich in diesem Fall keine Ansprüche nach dem OEG ergeben“, heißt es in der Senatsantwort. Die Senatorin betonte zwar, dass man sich „dafür stark gemacht“ habe, dass auch diese Gewaltformen von OEG abgedeckt werden, was aber nicht mehrheitsfähig gewesen sei. „Das bedauern wir“, sagte Schlotzhauer.

Die Senatorin versprach, das Thema 2024, wenn Hamburg den Vorsitz der So­zi­al­mi­nis­te­r*in­nen­kon­fe­renz innehat, auf der Bundesebene einzubringen. Dass psychische und kulturelle Gewalt nicht anerkannt werden, sei ein generelles Problem, das für eine größere Personengruppe wie etwa auch von sexistischer Gewalt Betroffene gelte. Deshalb sei es nicht sinnvoll, für dieses Problem eine Lösung auf Landesebene zu suchen.

Genau diese Landeslösung forderte Özdemir, die betonte, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern strukturelle Unterdrückung gehandelt habe, da die „Deutsche Methode“ ja ein Konzept gewesen sei. Die Linkenpolitikerin forderte, zweigleisig zu fahren und für Hamburg eine eigene Entschädigungs-Stiftung ins Leben zu rufen. Unterstützung erhielt sie dafür von der CDU. Özdemir befürchtet, dass der Prozess auf Bundesebene „Jahre dauern“ könnte. Das sei nicht hinnehmbar. „Es geht ja auch um ältere Menschen“, sagte sie der taz.

Cansu Özdemir will nun auf die inklusionspolitischen Spre­che­r*in­nen der Fraktionen zugehen und sich für eine Ex­per­t*in­nen­an­hö­rung einsetzen. In dieser sollen Wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen zu Wort kommen sowie „Betroffene, die sich intensiv mit dem Thema befasst haben“.