piwik no script img

Wieder ganz unten anfangen

Nur wer arbeitet, kann sich demokratisch beteiligen? Der Sozialphilosoph Axel Honneth überprüft die Arbeitsverhältnisse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin und zeichnet die Umrisse einer künftigen Politik der Arbeit

Von Claus Leggewie

Arbeit ist in der Moderne zur Stütze der Gesellschaft aufgestiegen: „Hand in Hand mit der sich allmählich entfaltenden Idee der demokratischen Souveränität des Volkes war … die bis heute leitende Vorstellung entstanden, die Gesellschaft stelle einen Kooperationszusammenhang dar, in dem jeder dazu angehalten ist, durch seine Arbeit so weit wie möglich zur Subsistenz aller anderen beizutragen und sich dadurch seiner Mitgliedschaft im politischen Verbund als würdig zu erweisen. Gedanklich war … nichts Geringeres geschehen, als dass zwischen politischer Demokratie und fairer Arbeitsteilung ein festes Band gestiftet worden war.“

Anders gesagt: Was einmal purer Zwang zum Broterwerb war, wurde zum Ausweis sozialer Emanzipation und Freiheit stilisiert. Dieses hier noch einmal souverän an der sozialphilosophischen Theorie herausgearbeitete Gesellschaftsbild, das bei Axel Honneth in den Vorschlag einer erneuerten sozialdemokratischen Arbeitspolitik mündet, verdient freilich energischen Widerspruch.

Normativ fehlt nämlich eine vergleichende, sozialanthropologisch unterfütterte Theorie des „Rechts auf Faulheit“ (Paul Lafargue) und empirisch bietet das Buch selbst eine Unzahl von Belegen aus der aktuellen Arbeitswelt dafür, dass sie es „aufgrund der damit verbundenen Unterordnung, Unterbezahlung oder Überforderung nahezu unmöglich macht, sich in die Rolle einer autonomen Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung auch nur hineinzuversetzen.“

Honneth führt in glänzenden ideenhistorischen (weniger so­zial­his­torischen) Exkursen aus, wie stark ökonomische, zeitliche, psychische, soziale und mentale Aspekte die Fähigkeit zur effektiven Ausübung der demokratischen Rechte beeinträchtigen können: „… wenn der Arbeitsplatz nicht die wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet, die erforderlich ist, um sich, unbekümmert um die Erwartungshaltungen Dritter, eine politische Meinung bilden zu können; … wenn die Arbeit und die mit ihr verknüpften Belastungen nicht genügend Zeit zur politischen Informierung und Betätigung lassen; … wenn die am Arbeitsplatz erbrachte Leistung nicht genügend soziale Anerkennung und Wertschätzung findet, um ein Vertrauen in den öffentlichen Wert der eigenen politischen Überzeugungen entwickeln zu können; … wenn der Arbeitsplatz zu wenig Möglichkeiten zur Einübung demokratischer Praktiken bietet, um sich ‚vorpolitisch‘ mit den Verfahren der kooperativen Willensbildung in der politischen Öffentlichkeit hinlänglich vertraut machen zu können; … wenn die am Arbeitsplatz zu leistenden Verrichtungen zu anregungsarm, zu gleichförmig und zu monoton sind, um die Art von Gespür für die eigene Gestaltungskraft und Selbstwirksamkeit entwickeln zu können, das für eine beherzte, nicht bloß defätistische Teilnahme an der öffentlichen Willensbildung erforderlich ist.“

Doch genau diese Verhältnisse, die bei prekären Jobs „unten“ genau wie bei hochdotierten Bull­shit-­Jobs „oben“ vorherrschen und eine schrumpfende Mitte hinterlassen, die an der Arbeit Freude hat und Kollektivverträge schätzt, führten dazu, dass Arbeitsteilung heute eben keine „leitende gesellschaftliche Vorstellung“ mehr ist. Man darf mit Honneth bedauern, wie Klassenfragen aus dem Blick geraten sind und identitäre „Fragen der Anerkennung von bislang unterrepräsentierten, ja diskriminierten Gruppen mit ihren Identitätsvorstellungen und Lebenszielen eine politisch erhöhte Dringlichkeit besitzen … (so) dass dahinter die durch die kapitalistische Arbeitswelt verursachten Missstände, Benachteiligungen und Nöte gänzlich zu verschwinden drohen“.

Doch was der an Hegel und vor allem Emile Durkheim und dem englischen Sozialisten G. D. H. Cole geschulte Philosoph normativ rehabilitieren möchte, stößt sich hart an der soziologischen Wirklichkeit und droht nostalgisch zu werden. Hoffnung schöpft Honneth eher verhalten aus „kleinen, sporadischen Akten des gezielten Ungehorsams, der aufmüpfigen Sabotage, der Verspottung von Anweisungen und des Zeitschindens“, denn „… nichts davon hat bereits die Schwelle zu einer Form der Ablehnung genommen, die sich mit Fug und Recht als eine moralisch grundierte Kritik bezeichnen ließe; es fehlt hier, weil irgendeine Öffentlichkeit erst gar nicht adressiert wird, jeglicher Zwang, sich über die eigenen Beweggründe Rechenschaft abzulegen und daher auf die normativen Gründe für das eigene Verhalten zu reflektieren.“

Honneths neue „Politik der Arbeit“ ist eher als „eine Form der vorausgreifenden Praxis“ gedacht. Das soll auf zwei Arten geschehen: Erstens sollen neben der marktvermittelten Lohnarbeit alternative Formen der Organisation von gesellschaftlicher Arbeit etabliert werden, um dadurch die Bedingungen der Teilnahme an der demokratischen Willensbildung zu verbessern, worunter bei Honneth eine temporäre Dienstverpflichtung fällt. „Wird eine Altersgruppe darauf verpflichtet, über einen bestimmten Zeitraum hinweg so­zia­le Dienste in unterschiedlichen Mi­lieus zu verrichten, lernt sie gewissermaßen notgedrungen, den Kreis derjenigen Personengruppen zu erweitern, an deren Lebensnöte sie fortan Anteil nimmt“ – eine Art gap year zur Einübung demokratischer Beteiligung (und zwar über Tätigkeiten, die gerade nicht in der klassischen Arbeitsgesellschaft angesiedelt sind).

Zweitens hofft er, dass selbstverwaltete Betriebe und Unternehmen bereits eine Alternative zum kapitalistischen Arbeitsmarkt eröffnen, wenn sie noch an die Bedingungen der Konkurrenz um ökonomische Gewinne gebunden bleiben – eine Art Labor „für eine Transformation des Wirtschaftssystems in Richtung eines marktvermittelten Wettbewerbs unter ausschließlich selbstverwalteten Betrieben“.

Axel Honneth: „Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 400 Seiten, 30 Euro

Honneth hat und macht auch seinen Lesern keine Illusionen: Man müsse „wieder ganz unten anfangen, … bedächtig dort ansetzen, wo der leise Widerstand des arbeitenden Souveräns sich regt, und diesen mit moralischen Argumenten derart stützen, dass daraus vielleicht einmal wieder eine öffentlich sichtbare Gegenbewegung erwachsen kann“.

Da verwundert die dogmatische Absage an Vorschläge, den Zwang zur Erwerbstätigkeit durch die staatliche Garantie eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) so weit zu minimieren, dass gerade dadurch für die Beschäftigten Spiel- und Freiräume für demokratische Aktivitäten entstehen. Honneth bestreitet kategorisch, dass „Menschen ohne den Zwang zur fremdbestimmten Arbeit, aber bei ausreichendem Einkommen ein vitales Interesse daran entwickeln würden, sich in den demokratischen Austausch über öffentlich relevante Belange einzumischen“.

Sie hätten die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wirft er André Gorz und weiteren Befürwortern des BGE vor: Erst die soziale Arbeitsteilung könne unter den Gesellschaftsmitgliedern ein Bewusstsein gemeinschaftlicher Verantwortung wecken, ohne dass ein Sinn für die Aufgaben der demokratischen Willensbildung erst gar nicht entstünde; die „erfahrungsprägende Kraft, die die Arbeitsbeziehungen trotz ständiger Anfechtungen weiterhin besitzen, resultiert aus dem Umstand, dass nur sie ein Heraustreten aus den engen Zirkeln von Verwandtschaft, Nachbarschaft und freiwilligen Vereinigungen erzwingen und daher Begegnungen mit Personenkreisen fördern, deren Einstellungen und Interessen einem ansonsten fremd und verschlossen blieben“.

Man darf mit Honneth bedauern, wie Klassenfragen aus dem Blick geraten sind

Mit bedingungslosem Einkommen Alimentierte würden sich allein an ihren jeweiligen subjektiven Präferenzen ausrichten. „Kurz gesagt: Ein System des bedingungslosen Grundeinkommens würde private Konsumenten, nicht aber dialogwillige und kompromissbereite Staats­bür­ge­r:in­nen großziehen.“

Während BGE-Befürworter auf eine Verringerung der Arbeitszeit setzen, beharrt der Traditionalist auf der Neu- oder Wiedereingliederung der Lohnarbeit in ein „Normalarbeitsverhältnis“ mit entsprechenden rechtlichen Sicherungen. Der „Mitgliedschaft im politischen Verbund als würdig erweisen“ kann man sich heute sicher auch und eventuell mehr auf anderen Wegen, die ökologischen Fragen haben das deutlich gemacht.

Axel Honneths Buch, aus den Berliner Walter Benjamin Lectures 2021 hervorgegangen, bietet beste Grundlagen für einen beherzten Streit über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen