: „Störfälle sind weiterhin möglich“
Auch der Rückbau von Atomkraftwerken birgt Risiken, weiß der Strahlenschutzexperte Roland Wolff. Der Bremer Physiker undsachverständige Gutachter sieht auch in Lubmin Schwachstellen, die eine Gefahr für die Arbeiter und die Bevölkerung darstellen könnten
Interview Wolfgang Mulke
taz: Herr Wolff, beim Rückbau wird das 10-Mikrosievert-Konzept verfolgt. Könnten Sie dies kurz erläutern?
Roland Wolff: Wie mit radioaktiven „Abfällen“ zu verfahren ist, regelt das Strahlenschutzrecht. Nach Einschätzung der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) stellt eine Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert für Einzelpersonen kein Gesundheitsrisiko dar und kann außer Acht gelassen werden. Verglichen wird der Wert beispielsweise mit der mittleren natürlichen Strahlenbelastung in Deutschland von 2.100 Mikrosievert. Der Gesetzgeber hat 2001 die Möglichkeit des „Freimessens“ eingeführt. Danach sind radioaktive Materialien im juristischen Sinn nicht radioaktiv, wenn die Strahlendosis im Bereich von 10 Mikrosievert liegt. Diese Abfälle dürfen auf Mülldeponien gelagert und dem normalen Wirtschaftskreislauf zugeführt werden. Somit können letztendlich geringe Radioaktivitätsmengen beispielsweise im Straßenbau oder in Heizkörpern landen.
Ist diese Strahlendosis tatsächlich ungefährlich?
Es gibt keine Strahlendosis ohne Gesundheitsrisiko. Die Überschreitung eines Grenzwerts bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten gesundheitlicher Folgen – insbesondere von Krebserkrankungen – über einem als annehmbar festgelegten Wert liegt. Im Falle des Rückbaus mehrerer Anlagen gleichzeitig werden viele Personen einer als gering angesehenen Dosis ausgesetzt. Somit erhöht sich die Kollektivdosis und es kommt zu einer gewissen Zahl an Krebsfällen. Auch werden nicht alle Stoffe gemessen. Tritium und Strontium sind mit dieser Messmethode gar nicht messbar, aber strahlenbiologisch relevant.
Am Ende des Rückbaus soll wieder eine grüne Wiese entstehen, die frei von Altlasten neu genutzt werden kann. Ist das realistisch?
Die grüne Wiese als Ziel des Rückbaus im Sinne einer landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ist eine illusorische Vorstellung, wie das Beispiel der Sickerwässer der Deponie Ihlenburg zeigt. Um eine Fläche frei von künstlicher Radioaktivität zu erhalten, müsste man den Boden abtragen. Im Zwischenlager Lubmin sowie an anderen Standorten sind rostende Fässer mit Atommüll vorgefunden worden. Das heißt, außer den Beschäftigten ist auch die Bevölkerung nach der Stilllegung einer kerntechnischen Anlage einer Strahlenbelastung ausgesetzt. Störfälle sind weiterhin möglich. Dass eine Gefährdung für die Bevölkerung vom Rückbau ausgeht, zeigen mehrere Vorfälle. Aus Lubmin wurden freigemessene radioaktive Abfälle auf die Deponie Ihlenberg gebracht. Nach Mitteilung des Schweriner Wirtschaftsministeriums sind in Sickerwässern der Deponie auch Radionuklide nachgewiesen worden, daruntee Tritium sowie Strontium. Tritium ist ein Wasserstoff-Isotop und kann im menschlichen Körper Wasserstoff in Biomolekülen ersetzen und so zu Schäden etwa an der Erbsubstanz führen. Tritium kann nicht gefiltert oder zurückgehalten werden. Auch sind laut Mitteilung des Umweltministeriums Schwerin im Zwischenlager in Lubmin an zwei Fässern mit konditioniertem Verdampferkonzentrat in fester und flüssiger Form etwa zwei Millimeter große Löcher festgestellt worden. Nach Aussage des Ministeriums ist jedoch keine Radioaktivität ausgetreten.
Welchen Risiken sind Beschäftigte im Rückbau und in den Zwischenlagern ausgesetzt?
Roland WolffPhysiker und international zertifizierter Gutachter für Strahlenschutz, Medizinphysik und Strahlenphysik. Forscht unter anderem zur Häufigkeit bestimmter Krebsarten bei strahlenexponierten Arbeitnehmer:innen.
Arbeiter im Rückbau könnten radioaktive Stoffe aufnehmen, vor allem durch Stäube. Beispiele sind Uran und Plutonium. Beide senden Alphastrahlung aus. Sie haben in Gewebe Reichweiten von etwa 0,01 Millimetern. Auf dieser äußerst kleinen Strecke geben sie ihre gesamte Energie ab und schädigen Zellen beziehungsweise das Erbgut. Bei einer Bestrahlung von außen schützt uns die intakte Haut. Gelangen Alphastrahler dagegen über Atemwege oder Nahrung in den Körper, werden sie über den Stoffwechsel und das Blut- und Lymphsystem weitertransportiert. Durch bestimmte Zellen des Immunsystems werden diese aufgenommenen Partikel über die Lymphbahnen in die Lymphknoten transportiert. Vereinfacht gesagt können Tumoren durch die Bestrahlung von Zellen im Lymphsystem hervorgerufen werden.
Gibt es Beispiele dafür?
Im Rahmen dreier Begutachtungen von Arbeitern aus dem Rückbau fielen drei Krankheitsfälle als Zufallsbefund auf. Ein Arbeiter ist an einem sogenannten Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) erkrankt, zwei weitere Arbeiter an chronisch lymphatischer Leukämie (CLL), also Krebserkrankungen des Lymphsystems. Meinen Kollegen und mir fiel auf, dass die Betroffenen zum Zeitpunkt der Diagnose zwischen 46 und 52 Jahre alt waren. In dieser Altersklasse treten diese Erkrankungen sehr selten auf. Es sind keine Einzelfälle. Mehrere internationale Studien zeigen eine erhöhte Rate unterschiedlicher Krebsarten bei Nukleararbeitern.
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