berliner szenen: Antänzer, anderthalb Jahre zu Fuß
Nach einer heißen Pansensuppe und einem gut gegrillten Lammspieß beim Wirt Kazim im Restaurant Defne laufe ich weit vor Mitternacht über den dunklen Kotti, stapfe über vermatschten Müll abgerissener Wahlplakate, vorbei an einem Flachbildschirm mit Bildern ukrainischer Schlachtfelder. Wie aus dem Nichts nähern sich mir vier junge Typen „südländischen Aussehens“, wie es lange in den Polizeiberichten hieß. Sie lächeln mich an wie Stricher, die ältere Schwule aufreißen, umzingeln mich, tänzeln freundlich immer näher: Antänzer! Die gibt’s noch? Amorphe Panik: Hund, Wolf, Schakal, gleich ist mein Handy weg, hab ich Back-up? Karten im Portemonnaie? Mich wehren? Weglaufen? Weit und breit: in diesem Moment niemand. Wenigstens habe ich meinen letzten Zwanziger vorhin ins Essen investiert.
Da packe ich, gewaltfreie Kommunikation, den Jüngsten aus der Gruppe nicht zu sanft am Unterarm, schaue ihm in die Augen. „English? Deutsch? You look good, man!“ Verwirrt funkeln mich seine Augen an, die Kumpels verfolgen die Szene passiv. Er radebrecht ein bisschen Deutsch. „Woher?“ – „Algerien.“ – „Komm mit, ich zeig dir was Schönes.“ Er wird neugierig. Seinen Unterarm lasse ich nicht los, er lässt mich gewähren, verlässt seinen Kreis, geht mit mir. Pausenlos rede ich weiter, wie schön es dort ist, wo wir gleich ankommen. Dort gegenüber. Angekommen in der Bar grinst er vor Freude: lauter junge Frauen am Tresen, alle super freundlich, coole Sounds.
Ein paar Meter nur entfernt vom Kotti, ein Lichtjahr weit von seiner Welt. Hassan aus Algier, Anfang zwanzig. Anderthalb Jahre zu Fuß über die Balkanroute geflüchtet, nun Antänzer und Kleindealer am Kotti. Er dreht einen Joint, wir rauchen ihn am Ufer des Landwehrkanals. Sein Haschisch ist so gut, dass ich ihm ein kleines Piece abkaufe. Guido Schirmeyer
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