: VirtuelleGedenkstätte
Eine neue E-Leanring-Plattform will Schüler*innen eine Vorstellung vom Leben im KZ Theresienstadt vermitteln
Aus Berlin-Neukölln Katharina Granzin
Optimalerweise solltet ihr ungefähr zwanzig Minuten pro Raum brauchen“, erklärt Daniel Grossmann und verteilt Arbeitsblätter an die Jugendlichen. An den Wänden des Klassenzimmers der 10c in der Evangelischen Schule Berlin-Neukölln hängen die Lernergebnisse vergangener Projekte, darunter auch ein Plakat mit Daten und Fakten über Konzentrationslager – Ergebnis eines Workshops, mit dem sich die Klasse auf eine Exkursion ins KZ Ravensbrück vorbereitet hatte.
Für die zehnte Klassenstufe sehe der Rahmenlehrplan die Beschäftigung mit der Nazizeit und dem Holocaust vor, erläutert Klassenlehrer Gabriel Benet leise, während die Schülerinnen und Schüler, die Köpfe konzentriert über Tablets gebeugt, in virtuellen Räumlichkeiten unterwegs sind. Da sei das Projekt, das Daniel Grossmann an die Schule herangetragen hatte, gerade richtig gekommen.
Grossmann ist an diesem Vormittag anwesend, um die E-Learning-Plattform über Musik im KZ Theresienstadt, die er gemeinsam mit dem Germanisten Ernst Hüttl von der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt hat, einem letzten Testlauf zu unterziehen. Schließlich ist es unabdingbar, ein Feedback von der Zielgruppe zu erhalten, bevor das Ganze offiziell online geht. Mehrere Oberschulen in München und Berlin haben an solchen Testläufen teilgenommen.
Für Daniel Grossmann, im Hauptberuf Dirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich, ist dieses Projekt Neuland. Alles habe begonnen mit Projektgeldern, die das Orchester von der Kulturstiftung des Bundes erhalten habe, um „die eigene Tätigkeit im digitalen Raum zu erweitern“. Gemeinsam mit einer Berliner Filmproduktionsgesellschaft entwickelten sie eine Präsentation eines der letzten Werke des Komponisten Viktor Ullmann, „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, das dieser 1944 in Theresienstadt komponierte, kurz bevor er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.
Die MusikerInnen spielten die Musik im Studio ein und fuhren dann zur KZ-Gedenkstätte in Terezín im heutigen Tschechien, um in verschiedenen Räumen die Aufführung vor der Kamera zu wiederholen. Den Text von Rainer Maria Rilke, auf dem Ullmanns Komposition basiert und den er als Sprechpart beibehalten hat, liest der Schauspieler Sabin Tambrea. Aus den Filmaufnahmen wurde ein 360-Grad-Video erstellt, das es ermöglicht, beim Betrachten und Zuhören von Raum zu Raum zu wechseln, die Perspektive zu ändern oder einzelne Aufnahmen heranzuzoomen.
Da hatte man also ein außergewöhnliches musikalisch-digitales Gesamtkunstwerk im Kasten. Und nun? Es einfach nur ins Internet zu stellen, war dem Dirigenten zu wenig. Grossmann machte sich ans Netzwerken und knüpfte Kontakte zur LMU München, wo sich eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe damit befasst, Holocaust-Zeugnisse mit digitalen Mitteln zu bewahren. Für die Gestaltung der digitalen Räume konnten Architekturstudierende gewonnen werden.
Die fertige Anwendung umfasst drei virtuelle Umgebungen, in denen sich die Avatare frei bewegen können. Der erste „Raum“, der mit seinen dunkelgrauen Wänden die Anmutung eines fensterlosen Bunkers hat, wirft die Ankommenden mit seiner Optik gleichsam erbarmungslos in die lebensfeindliche Umgebung eines KZs. Es gibt eine einleitende Bild- und Texttafel, im Übrigen aber ist der gesamte Raum den Erinnerungen der Überlebenden Michaela Vidláková gewidmet, die als Siebenjährige mit ihren Eltern aus Prag in die westböhmische Festungsstadt deportiert worden war.
Die kurzen Videofilme, in denen sie sehr anschaulich von den Bedingungen berichtet, unter denen in Theresienstadt existiert werden musste, findet man beim Durchschweben des Ausstellungssaals etwas versteckt in kleinen seitlichen Kammern. Unter anderem erzählt Michaela Vidláková, wie sie im Lager Deutsch lernte: von einem Berliner Waisenjungen, der gemeinsam mit ihr in der Krankenstation lag.
Er hätte ihr Bruder werden können, sagt sie, und ihre Eltern hätten ihn nach dem Krieg auch gesucht, aber „den Bruder gab es nicht mehr“. Der Junge war, kurz bevor eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes Theresienstadt besichtigte, mit anderen Kranken nach Auschwitz abtransportiert worden.
In den zweiten virtuellen Ausstellungsraum gelangt man, indem man in die Adresszeile des Browsers ein Lösungswort einfügt, das sich aus dem Arbeitsblatt zum ersten Raum ergibt. Diese zweite Ebene erinnert baulich ein wenig an das Ständetheater in Prag und behandelt das Thema „kulturelles Leben in Theresienstadt“. Auch Viktor Ullmann wird hier eingeführt, der im Lager in vielen Funktionen aktiv war.Der dritte virtuelle Raum schließlich, optisch dem anthroposophischen Goetheanum in der Schweiz nachempfunden, ist ausschließlich dem Leben Ullmanns gewidmet. In einem der kleinen runden Ausstellungspavillons, die locker verteilt in grüner Umgebung stehen, findet sich auch ein Ausschnitt des Videos von „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Wer dieses Werk ganz ansehen will, muss den inzwischen schon gewohnten Weg gehen und in die Adresszeile des Browsers das Lösungswort von Ebene 3 eingeben (man findet das Video aber auch direkt auf der Website des Orchesters und auf Youtube).
Die jungen Neuköllner Proband*innen schaffen die beiden Räume, die sie testen sollen, ganz gut in einer Unterrichtsstunde. Tatsächlich sind am Ende fast, aber nicht ganz alle Lösungswörter auf den Zetteln der Schüler*innen komplett richtig. Daniel Grossmann ist zufrieden, denn zu leicht darf es ja auch nicht sein.
Nun sollen die Jugendlichen Feedback geben. Bei manchen haben die Videos etwas „gelaggt“ – ein Problem, das bekannt ist und mit der Schwankungsbreite der Datenübertragung zu tun hat. Ein Junge schlägt vor, die einzelnen Räume zu nummerieren, damit man besser wisse, wo man schon war und wo nicht. Grossmann sagt, ja, darüber habe er auch nachgedacht, aber es habe alles Vor- und Nachteile. Sie hätten eben genau diese Freiheit erhalten wollen, sich selbst einen Weg zu suchen – wie in einem echten Ausstellungsraum.
Wie sie es denn gefunden hätten, auf diese Weise Wissen vermittelt zu bekommen, fragt Lehrer Benet seine Klasse. Sei das besser oder schlechter als herkömmlicher Unterricht? Da sagt ein Mädchen, oh doch, das sei schon sehr gut so, weil Jugendliche sich vor einem Computer ja meist gut konzentrieren könnten. Und außerdem könne man sich Sachen auf diese Weise besser merken; allein dadurch, dass man sich in einem Raum befinde: „Dann hat man so ein Bild im Kopf.“
Die virtuelle Ausstellung und Lernplattform „Musik im KZ Theresienstadt“ ist im Internet unter https://jcom.de/elearning/ abrufbar. Wer das Material im Unterricht verwenden möchte, kann ein PDF-Dokument herunterladen, das Hinweise für den Umgang mit der Plattform und alle Arbeitsblätter enthält.
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