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Archiv-Artikel

Orange Unfähigkeit

Juschtschenko ist mit großen Versprechen in der Ukraine angetreten. Doch Reformen lassen auf sich warten. Die Regierung prägen mangelnde Professionalität und Integrität

Beobachter stellen ernüchtert fest, in Kiew geht es wieder zu wie einst unter KutschmaDie westlichen Staaten sollten sich nicht vom Kultum Juschtschenko blenden lassen

Nicht ganz ohne Grund hat sich die ukrainische Jeanne d’Arc alias Julia Timoschenko, Ministerpräsidentin der Ukraine, vor einer Woche die französische Hauptstadt für ihre erste Auslandsreise ausgesucht: Frankreich und die Ukraine hätten vieles gemeinsam, allen voran die Revolutionen in ihren Ländern. Tatsächlich aber scheinen das auch schon alle Gemeinsamkeiten zu sein. Nach der Revolution in Orange läuft die Ukraine Gefahr, im Bewusstsein des Westens wieder in eine Grauzone zurückzufallen. Schlagzeilen über Uneinigkeit im Regierungslager, mangelhafte Regierungsarbeit und staatliche Interventionen dominieren und haben Beobachter ernüchtert feststellen lassen, in Kiew gehe es wieder zu wie einst unter Kutschma.

Während nicht zu leugnen ist, dass Präsident Juschtschenko eine aktive Außenpolitik betreibt, zeichnet sich diese vor allem dadurch aus, dass sie will, aber nicht kann. Das Verhältnis zur Europäischen Union hat sich nicht grundlegend verändert. Innenpolitisch verzeichnet Juschtschenko noch weniger Erfolg. Sein Regierungsteam besteht aus politisch verschieden gesinnten Gefolgsleuten, zu denen alte und neue Oligarchen gehören.

Ebenso häufen sich Gerüchte über persönliche Machtkämpfe: Während der Benzinkrise soll Juschtschenko seiner Ministerpräsidentin, der Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt werden, den Rücktritt nahe gelegt haben. Timoschenko hingegen – die die Oligarchen bekämpfen will, sich aber im Falle einer Trennung von Juschtschenko sehr wohl ihrer bedienen könnte –, wirft dem „Schokoladen-Oligarchen“ Petro Poroschenko vor, er integriere gegen sie. Von Poroschenko, der dem Nationalen Sicherheitsrat vorsteht, ist wiederum bekannt, dass er lieber Timoschenkos Posten innehätte.

Der baldige Beitritt der Ukraine zur Welthandelsorganisation (WTO), das tatsächlich einzige realistische Ziel der neuen Regierung, ist nun den internen Streitereien und dem fehlenden Konsens zum Opfer gefallen. Abgeordnete von „Unsere Ukraine“, der nationalistischen Rechten und der alten Linken stimmten Mitte der vergangenen Woche gegen Maßnahmen, die die Ukraine näher an die WTO gebracht hätten.

Doch Präsident Juschtschenko muss nicht nur sein Haus in Ordnung bringen, aktive Koalitionen bilden und einen energischeren Regierungsstil entwickeln. Bei der Reform des Justizsystems ist Kiew kaum über Absichtserklärungen hinausgekommen. Jüngstes Beispiel: Timoschenkos Äußerung in Paris, die Ukraine passe ihr Rechtssystem unaufhörlich den europäischen Forderungen an.

Sogar dem Präsidenten wird ein lückenhaftes Rechtsbewusstsein vorgeworfen, weil er Gesetze unterzeichnet hat. Eine Tätigkeit, die laut Verfassung der Ministerpräsidentin vorbehalten ist. Zudem besetzen unter seiner Regierung über 30 Personen zugleich einen Regierungsposten und ein Parlamentsmandat, was ebenfalls nicht verfassungskonform ist.

Während die verfassungswidrigen Unterschriften mit einer mangelhaften Koordination zu erklären ist, ist der zweite Fall der leeren Parlamentsmandate schwerwiegender: „Die Wiederwahl eines Mandats ein Jahr vor einer Parlamentswahl ist gesetzlich verboten. Um solche Missstände in Zukunft zu verhindern, müsste nur das Gesetz geändert werden“, sagt der außenpolitische Berater der Ministerpräsidentin, Hryhori Nemyria.

Tatsächlich sind die Themen in der Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 die gleichen geblieben: Mangelhafte Koordination und Kompetenz auf fast jeder Ebene waren schon Anfang der 90er-Jahre ein Problem wie auch die fehlende Professionalität der Regierung. Die politische Elite, die hauptsächlich aus der alten Garde besteht und deren Denken sich nicht geändert hat, ist bisher selten durch tatkräftige Demokratiebekenntnisse aufgefallen.

Inzwischen ist klar, dass das Ausbleiben der Rechtsreform die Reprivatisierung, ein Wahlversprechen Juschtschenkos, behindert. Am vergangenen Freitag musste der Präsident gar zugeben, dass es die seit Februar angekündigte Liste mit 29 zu reprivatisierenden Unternehmen nicht gebe, weil dazu kein gerichtlicher Beschluss vorliege.

Darüber hinaus blockiert die unklare Rechtslage – trotz ziemlich eindeutiger Beweise – die Aufklärung des Mordes an dem Journalisten Georgi Gongadse, den der ehemalige Präsident Kutschma angeordnet haben soll. Während der Präsident zwar nicht dazu bevollmächtigt ist, Richter auszuwechseln, könnte sich aber die resolutere Entlassung von korrupten Beamten innerhalb der Verwaltung als wirksam erweisen. Denn sowohl die Reprivatisierung als auch die Mordaufklärung sind Punkte, denen der Westen Bedeutsamkeit beimisst.

Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie belegen, dass die Bevölkerung keine bedeutenden Fortschritte wahrnimmt: Nur 19,6 Prozent der Befragten glauben, nun bessere Chancen zu haben, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte gehe. 35 Prozent meinen hingegen, in diesem Punkt sei alles beim Alten geblieben. Bei der Meinungsfreiheit glauben 15,7 Prozent der Befragten, bedeutende Verbesserungen feststellen zu können; für 44,5 Prozent ist auch hier nichts anders geworden sei. Im Ganzen bewerten nur 27,4 Prozent der Befragten die Politik der neuen Macht als positiv; 24,1 Prozent schätzen sie eher als positiv denn als negativ ein, und 30,8 Prozent sind sich unsicher.

Schließlich aber stellt das Fehlen einer demokratischen, parlamentarischen Opposition das größte Manko in der Ukraine dar, was auch der ukrainische Verteidigungsminister Anatoli Hryzenko eingesteht. Ob sich schon bei der Parlamentswahl im März 2006 eine dritte Kraft hervortut, bleibt abzuwarten.

Von den zahlreichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) könnte die Jugendorganisation Pora, die aktiv an der Mobilisierung der Demonstrationen im Dezember 2004 beteiligt war, eine Hoffnung sein. Sie hat nun eine Partei gebildet und sich für die Wahl registrieren lassen, doch ihre Teilnahme noch nicht bestätigt. Sollte Pora allerdings nicht antreten, ist ein neuer Kampf zwischen der Regierung und der Opposition, den alten Machthabern, zu erwarten.

Dass die Parlamentswahl im kommenden Frühjahr die Lage für die neue Regierung erschwert, ist keine Frage. Gerade deshalb aber sollten sich die westlichen Staaten nicht vom Kult um Juschtschenko blenden lassen und der Versuchung erliegen, zu viel zu erwarten. Stattdessen sollte der Westen die Bildung einer neuen politischen Opposition fördern und in Sachen Justizreform Druck ausüben sowie Hilfe anbieten. Wenn der Westen will, dass die Ukraine den Übergang zu einem demokratischen Staat schafft und sie auf Russland „demokratisierend“ wirken soll, dann muss er sich Kiew gegenüber auf Kompromisse einstellen und Geduld für einen störanfälligen Reformprozess mitbringen, statt das Land wieder in eine Grauzone zurückfallen zu lassen.

MONIKA JUNG-MOUNIB