Proteste in China: „Nieder mit Xi Jinping, nieder mit der Partei!“

In Shanghai und anderen Städten zieht es so viele Menschen auf die Straße wie seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. Die Demonstranten fordern ein Ende der „Null Covid“-Politik – und mehr

Quarantäne-Kontrolle in Peking, 24. November 2022 Foto: Kevin Frayer/getty images

Aus Peking Fabian Kretschmer

In der Nacht auf Sonntag haben sich die Chinesen von den Fesseln der drakonischen „Null Covid“-Politik befreit. In Shanghai sind bis in die tiefen Morgenstunden mehrere hundert Menschen auf die Wulumuqi-Straße in der ehemals französischen Konzession, dem historischen Teil der Stadt, gezogen. Dort haben sie ihren Frust gegenüber der Regierung lauthals freien Lauf gelassen: „Nieder mit Xi Jinping!“, schreit die Menschenmenge, und immer wieder: „Nieder mit der Partei!“ In einem Land, in dem die Leute den Namen ihres mächtigen Landesvorsitzenden nur im Flüsterton auszusprechen wagen, sind solche Proteste nicht nur mutig, sondern auch überaus gefährlich.

Doch immer Chinesen haben das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ausgezehrt nach zweieinhalb Jahren Pandemie wollen sie die rigiden Einschränkungen der „Null Covid“-Politik nicht mehr hinnehmen. Der Coronafrust hat dazu geführt, dass erstmals seit mehreren Jahrzehnten in fast allen Landesteilen die Menschen auf die Straße ziehen: von Guang­zhou über Wuhan bis nach Zhengzhou. Immer wieder erklingt dabei die erste Zeile der Nationalhymne: „Steht auf! Alle, die keine Sklaven mehr sein wollen“. Historische Worte, die sich jetzt gegen die Regierung wenden.

Auch im Campus der altehrwürdigen Tsinghua-Universität in Peking, immerhin der Alma Mater von Xi Jinping, haben sich unzählige Studierende vor einer Mensa versammelt. In geschlossener Einigkeit halten sie leere DIN-A4-Papiere in die Luft. Das Ungeschriebene, das die jungen Chinesen aufgrund der staatlichen Repressionen nicht zu äußern wagen, ist längst zum Symbol für eine tief ersehnte Meinungsfreiheit geworden. „Wenn wir uns aus Angst nicht zu Wort melden, enttäuschen wir unser Volk. Als Tsinghua-Studentin würde ich dies für den Rest meines Lebens bereuen“, hört man auf einem Onlinevideo eine Frau mit zittriger Stimme sagen. Die Menge entgegnet ihr jubelnd: „Hab keine Angst!“

Denn trotz der drohenden Verhaftungen spüren viele junge Chinesen, dass sie nicht mehr länger schweigen können. Ausgelöst hat die landesweite Wut ein tragische, jedoch menschengemachte Katastrophe: In der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi sind am Donnerstag bei einem Wohnungsbrand im 15. Stock eines Wohnhauses mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen. Auf sozialen Medien kritisierten mehrere Anwohner, dass die Notausgänge verschlossen gewesen seien und die Feuerwehrwagen aufgrund der Metallgitter, Eisenschlösser und Ausgangssperren quälend lange brauchten, um den Unglücksort zu erreichen.

Hätten die Toten verhindert werden können? Es wäre nicht das erste Mal, dass die exzessiven Lockdowns Menschenleben kosten würden: Fast täglich verbreiten sich Smartphone-Videos, die Menschen zeigen, die nach Wochen, manchmal Monaten des Eingesperrtseins verzweifelt von ihren Dächern in den Tod springen. Zu Beginn des Monats musste eine Frau den Suizid ihrer 55-jährigen Mutter in der nordchinesischen Stadt Hohot ansehen: Sie wollte rettend zur Hilfe eilen, doch wurde nicht in das abgesperrte Gebäude gelassen.

Wer auf Twitter oder anderen internationalen Onlineplattformen unterwegs ist, bekommt die traurigen Schattenseiten der chinesischen Coronapolitik zuhauf mit. Wer lediglich die staatlich kontrollierten Medien konsumiert, kann sich kaum ein akkurates Bild von der Realitätmachen: Zu akribisch sind die Zensoren am Werk, die keine Negativmeldungen tolerieren. Doch wie sich jetzt zeigt, funktionieren die Repressionen nur bis zu einem gewissen Grad: Wenn man den Volkszorn als kochendes Wasser versteht, kann der Staat nicht endlos lange seinen autoritären Deckel draufschieben. Irgendwann schäumt es über.

„Wenn wir uns aus Angst nicht zu Wort melden, enttäuschen wir unser Volk“

Chinesische Studentin Tsinghua-Universität, Peking

Dabei schien sich das Ende der „Null Covid“-Maßnahmen auch vor den Protesten vom Wochenende bereits anzubahnen. Denn trotz der rigiden Maßnahmen steigen die Coronazahlen in China immer weiter an. Am Sonntag hat die natio­nale ­Gesundheitskommission mit über 39.000 Fällen den vierten Tag in Folge den höchsten Wert seit Pandemiebeginn registriert. Und jede einzelne Ansteckung führt bislang dazu, dass ganze Wohnsiedlungen abgeriegelt werden und etliche Menschen unter Zwang in Quarantäne­lager transferiert werden.

Die Auswirkungen jener Politik lassen sich dieser Tage auch im wirtschaftlich wohlhabenden Peking eindrücklich beobachten: Das politische Machtzentrum des Landes wirkt derzeit wie eine ein­zige Geisterstadt. Nur mehr die Supermärkte haben ge­öffnet, und die wenigen Menschen auf der Straße stehen meist vor den unzähligen PCR-Teststationen an. Selbst in Sanlitun, das mit seinen Flagship-Stores und hippen Cocktailbars das vielleicht internationalste Vergnügungsviertel der Hauptstadt ist, haben die Behörden unlängst auf einem Parkplatz 16 weiße Containerkabinen platziert: Dort sollen die Corona-Infizierten der Gegend untergebracht werden – ganz gleich, ob sie Symptome haben oder nicht.

Doch am Wochenende erkämpften sich unzählige Pekinger trotz der anhaltenden Restriktionen ihren Weg in die Freiheit sprichwörtlich, wie das Beispiel einer abgeriegelten Wohnanlage im Bezirk Chaoyang zeigt: Dutzende Bewohner haben sich über ihre ­WeChat-App mobilisiert und zur Mittagsstunde in der Lobby verabredet. „Gemeinsam sind wir stark“, schreiben die Be­wohner einander Mut zu.

Und in der Tat kneifen sie nicht: Die Barrikaden, welche die Mitglieder des Nachbarschaftskommitees und das Gesundheitspersonal in ihren weißen Seuchenschutzanzügen aufgestellt haben, ignorieren die Nachbarn schlicht. Mit dem Hinweis, dass sie ohne rechtsstaatliche Grundlage eingesperrt werden, schreiten sie selbstbewussten Schrittes auf die Straße hinaus – offenbar selbst darüber erstaunt, dass die staatlichen Autoritäten nicht eingegriffen haben. Doch wie es scheint, sind auch die Sicherheitskräfte von zweieinhalb Jahren Pandemiekampf zermürbt – und können den Frust der Menschen durchaus verstehen. Nach gewonnenem Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie sagt der Gruppenführer der Anwohner stolz: „Freiheit ist ein kostbares Gut!“ Und dieses wollen sich immer weniger Chinesen nehmen lassen. Das Wochenende wird wohl zweifelsohne als Anfang vom Ende der „Null Covid“-Politik in die Geschichtsbücher eingehen: Erstmals haben sich unzählige Chinesen den rigiden Lockdown-Maßnahmen der Behörden widersetzt.

Doch viele junge Chinesen, insbesondere in Shanghai, werden sich nicht mit einer Lockerung der Coronapolitik abspeisen lassen. Denn diese ist nur die Manifestation der Entwicklung, die unter Xi Jinping seit Jahren zu beobachten war: China ist zunehmend repressiv, international isoliert und zu einem Überwachungsstaat geworden. Für manche Demonstranten waren die Lockdown-Toten von Ürümqi nur der Funke, an dem sich die Proteste entzündeten. Ihr Wunsch nach einer anderen, freieren Gesellschaft reicht darüber hinaus.

Ikonischer Protest in Shanghai, 27. November 2022 Foto: reuters

Wenig überraschend schlägt am Sonntag die Staatsgewalt in Shanghai am härtesten zurück. Die Wulumuqi-Straße, wo noch vor wenigen Stunden die Leute den Fall der Regierung forderten, ist nun weiträumig von der Polizei abgesperrt worden – auch in sämtlichen umliegenden Plätzen wurden vorsorglich Metallzäune aufgestellt.

Dennoch sind die – diesmal stillen – Demonstranten zu Hunderten wieder zurückgekehrt, viele von ihnen mit Gedenkblumen in den Händen. Einige Personen wurden noch am helllichten Tag von den Polizisten abgeführt, am Abend hat sich bereits ein ganzer Polizeibus mit Verhafteten gefüllt. Dennoch gehen die restlichen Menschen nicht fort, sondern harren weiter aus.

Wie historisch ihre Courage ist, werden viele Landsleute gar nicht mitbekommen. Im chinesischen Internet haben die Zensoren bereits sämtliche Videos aus Shanghai gelöscht. Doch die, die am Sonntag vor Ort waren, werden die Ereignisse wohl ihr Leben lang nicht mehr vergessen.