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Von Fürsten, Pilzen und Tibetern

Das Staunen zählt kaum noch als Zugang zur Welt. Es sei denn, man besucht die Wunderkammern der Neuköllner Oper, die Wissenschaft und Musik an besonderen Orten zusammenbringen

Von Katja Kollmann

„Die Wunderkammer ist so eine Art Glückslabor“, meint Bernhard Glocksin, der künstlerische Leiter der Neuköllner Oper. Er steht auf dem Neuen Jacobi Friedhof an der Hermann­straße. Es ist Herbst, und Menschen sind auf das Gelände zur Wunderkammer III gekommen, die sich den Pilzen verschrieben haben. Sie werden an der feuchten Herbstwiese riechen, zu den Vögeln aufblicken und singen. Dazu angeleitet werden sie von der Mikrobiologin Vera Meyer, dem Verhaltensforscher Jens Krause und den MusikerInnen Markus Syperek, Leonardo von Papp und Hrund Osk Arrnadottir.

So sitzt Jens Krause auf einem schwarz schillernden Hochsitz in einer Friedhofslichtung. Er macht Gedankenräume auf von den Vogelschwärmen zur Schwarmintelligenz und fragt, wie Netzwerke eigentlich funktionieren. Vera Meyer geht es darum, Pilze, die „auf, in und unter uns sind, sichtbar zu machen“. Mit ihrem faszinierenden Organisationsgeflecht. Da ist es zur polyfonen Musik nicht mehr weit, findet Markus Syperek, und so ertönt in der Friedhofskapelle vielstimmige Musik von Monteverdi bis Piazzolla.

„WissenschaftlerInnen und MusikerInnen versuchen miteinander, einen anderen Blick auf die Welt zu werfen“, erklärt Glocksin das Grundkonzept der Veranstaltungsreihe „Wunderkammer“, die es inzwischen auf sechs Ausgaben gebracht hat. Angefangen hat es mit einem Ausflug in die Ursprünge der abendländischen Musik – in die Renaissance, in der an vielen europäischen Fürstenhäusern die Wunderkammern entstanden sind. Grundimpuls für das Sammeln war damals das Staunen, das Bewundern und auch das Berührtwerden.

Für Glocksin war das der Ausgangspunkt, um das Format Wunderkammer zu entwickeln, denn „das Staunen ist ein völlig unterschätzter Zugang zur Welt“. Er wagt es, mit diesem Format auch die ganz großen Fragen zu stellen, zum Beispiel: „Wie können wir einen sinnvolleren, erfüllenden Zugang zur Welt finden?“ Und geht damit raus aus der Neuköllner Oper, zum Beispiel auf den Neuen Sankt Jacobi Friedhof, nach Marzahn in die Gärten der Welt oder ins Alte Museum. Sabrina Rosetta entwickelt für jeden Themenort die adäquate Raumgestaltung. Jedes Mal holt sich Glocksin neue MusikerInnen und ExpertInnen, die offen sind für den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft.

Glocksins Wunderkammern kreisten bis jetzt um die Träume des Alexander von Humboldt, die Sehnsucht nach Schönheit und das Wunderwerk Körper.

Dem Wunderwerk Körper näherte sich der Neurowissenschaftler Tobias Esch in der Schinkel-Rotunde des Alten Museums. Die Musiker Niko Meinhold und Wu Wei saßen in der Mitte des Saales an Harfe und einem fernöstlichen Blasinstrument. Um sie herum die ZuschauerInnen. Zwischen den dorischen Säulen eingepfercht stehen Statuen. Aber sogar sie verloren im bläulichen Widerschein, der den Raum dominiert, ihre Schwere. Und dann stellte Esch produktiv verstörende Fragen: „Wären Sie ohne Musik denkbar?“ und „Bin ich beheimatet in mir selbst?“

In der tibetischen Kultur ist Musik das Verbindungselement zu dem, was vor und nach dem Leben ist, erläuterte Tibet-Expertin Mona Schrempf. Eine Parallele zum europäischen Kulturraum, in dem Wiegenlied und Requiem das Leben musikalisch abrunden. Der Komponist Niko Meinhold nahm das als Ausgangspunkt für seine speziell für die Rotunde entwickelte Komposition/Improvisation und führte so gezielt abend- und morgenländische Instrumente zusammen. Für Glocksin eröffnete sich hier „Körper und Geist von einer anderen Perspektive aus zu sehen, von seinen Möglichkeiten her“.

Am kommenden Donnerstag, Freitag und Samstag geht die Kunstkammer in ihre siebte Edition. Sie macht einen Ausflug nach Steglitz, in die Siemens-Villa. In der Wunderkammer-Post, die Bernhard Glocksin einem nach erfolgter Anmeldung in den digitalen Briefkasten wirft, steht, dass die zehnjährige Fanny Däuper als Expertin eingeladen ist. Sie liebt Musik und Theater, kann es aber nur hören. Glocksin schreibt in seinem Brief: „Ein Motiv unserer Reihe ist ja, andere Blickwinkel einnehmen zu können, in dem Wunsch, damit auch anders handeln zu können. Und zugleich dem Wesen von Musik anders und vielleicht tiefer begegnen zu können. Wäre es da nicht eine Freude zu Gast zu sein bei blinden Menschen und ihrer Expertise?“ Denn: „Wie lassen sich Umwelt, Gefühle und Begegnungen noch anders „lesen?“ Die Neuköllner Kunstkammer ist ein wissenschaftlich-musikalisches Labor und in dieser Eigenschaft ein poetisches Kleinod der Erkenntnis.

10./11./12. November, Wunderkammer „Welt ohne Bilder“, 19 Uhr, Villa Neukölln

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