Erste Runde ohne Sieger

In Brasilien bekommt der linke Präsidentschaftskandidat Lula gut 48 Prozent, der rechtsextreme Amtsinhaber Bolsonaro holt rund 43 Prozent. Nun folgen eine Stichwahl am 30. Oktober und ein polarisierter Wahlkampf

Dieser Lula-­Unterstützer weiß im Moment der Schließung der Wahllokale in Brasilien noch nicht, wie es aus­gegangen ist, aber die Reaktion stimmt schon Foto: Fo­to: Amanda Perobelli/reuters

Aus Sao Paulo Niklas Franzen

Als Luiz Inácio „Lula“ da Silva um 21:57 Uhr Ortszeit im vollbepackten Auditorium vor die Presse tritt, ziert ein Lächeln sein Gesicht. Es läuft der Wahlkampfjingle, seine Mit­strei­te­r*in­nen strecken Fäuste und zum L geformte Hände in die Luft. Doch so richtig will in dem schicken Hotel im Zentrum São Paulos keine Partystimmung aufkommen.

Zwar bekam der Politiker der Arbeiterpartei die meisten Stimmen. Doch der erhoffte Sieg in der ersten Runde gelang ihm nicht – und sein Kontrahent, Amtsinhaber Jair Bolsonaro, schnitt ebenfalls stark ab.

Mehr als 160 Millionen Bra­si­lia­ne­r*in­nen waren am Sonntag dazu aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Ab der Mittagszeit versammelten sich die Granden der Arbeiterpartei, Ak­ti­vis­t*in­nen und Hunderte Pres­se­ver­tre­te­r*in­nen in dem Hotel unweit des heruntergekommenen Republik-Platzes. Großbildschirme zeigten Nachrichtensender und im Raum liefen Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Partei nervös auf und ab. Die Anspannung war groß, obwohl fast alle zu diesem Zeitpunkt noch an einen überwältigenden Wahlsieg glaubten. So auch die indigene Aktivistin und Linkspolitikerin Sonia Guajajara: „Ich bin sicher, dass wir heute den Faschismus in Brasilien besiegen werden“, sagte die 48-Jährige, die ein rotes Kleid und auf dem Kopf traditionellen Federschmuck trug.

Ana­lys­t*in­nen sprachen von der „wichtigsten Wahl in der Geschichte des Landes“. Denn mit Bolsonaro trat ein Rechtsradikaler zur Wiederwahl an, der sich im Dauerkonflikt mit den demokratischen Institutionen befindet, gegen Minderheiten hetzt und das Land durch seine zerstörerische Umwelt­politik international isoliert hat.

In den Umfragen hatte Bolsonaro deutlich hinter Lula gelegen und kam dort zuletzt gerade einmal auf rund 36 Prozent der Stimmen. Dass er nun 43,2 Prozent bekommen hat, ist ein Erfolg für den Rechtsradikalen. Lula holte zwar 48,43 Prozent der Stimmen, schrammte damit aber knapp an einem Wahlsieg in der ersten Runde vorbei. Dafür hätte er mehr als 50 Prozent der Stimmen benötigt. Die Kan­di­da­t*in­nen der hinteren Plätze waren entsprechend deutlich abgeschlagen.

So kommt es am 30. Oktober zur Stichwahl zwischen Lula und Bolsonaro – und Brasilien steuert auf turbulente Wochen zu.

Das Land ist in zwei Lager gespalten, das sah man auch am Wahlmorgen. Viele Wäh­le­r*in­nen tauchten in den Farben der beiden großen Kandidaten vor den Wahllokalen auf: Die Un­ter­stüt­ze­r*in­nen von Lula in rot, die Un­ter­stüt­ze­r*in­nen Bolsonaros in den Nationalfarben grün und gelb. Die befürchteten Ausschreitungen blieben aus.

Nachdem am Wahlabend die Wahlergebnisse feststehen, läuft ein Mann mit rotem Pullover und grauen Haaren sichtlich nachdenklich durch den Presseraum. Es ist Eduardo Suplicy, Ex-Senator und Kultfigur der Arbeiterpartei (PT). „Wir wollten eigentlich in der ersten Runde gewinnen“, sagt der 81-Jährige der taz. „Doch die Mehrheit der Brasilianer wird in der Stichwahl für Lula stimmen.“ So klingen am Abend viele Po­li­ti­ke­r*in­nen der Partei: Optimismus – ja, wirkliche Freude – nein.

Nach der Rede Lulas ziehen einige weiter zur Avenida Paulista, São Paulos gigantischer Prachtmeile. Dort war eigentlich eine große Wahlparty geplant. Einige Tausend sind trotz des ambivalenten Ergebnisses gekommen. Es läuft Musik, es wird getanzt, gelegentlich kracht Feuerwerk am Nachthimmel über der Megametropole. Einige windige Verkäufer bieten Grillfleisch, Bier und Handtücher mit dem Konterfei Lulas an. Doch auch hier sind viele merklich enttäuscht, einige sprechen sogar von einer „Niederlage“. Das liegt auch an den weiteren Ergebnissen.

Denn neben dem Präsidenten wurden auch das Abgeordnetenhaus, Teile des Senats, die Lokalparlamente und die Gou­ver­neu­r*in­nen gewählt. In vielen Bundesstaaten konnten sich Verbündete Bolsonaros durchsetzen. In Rio de Janeiro fuhr der von Bolsonaro unterstützte Kandidat Claudio Castro einen Erdrutschsieg ein und gewann die Gouverneurswahl in der ersten Runde.

In São Paulo holt der Bolsonaro-Kandidat Tarcísio Freitas die meisten Stimmen, er muss jedoch gegen PT-Politiker und Ex-Präsidentschaftskandidat Fernando Haddad in die Stichwahl. Auch bei den Gouverneurswahlen wichen die Umfragewerte teils deutlich von den Wahlergebnissen ab.

„Für uns ist das nur eine Nachspielzeit. Aber wir werden die Wahl gewinnen.“

Luiz „Lula“ da Silva, Präsidentschafts­kandidat der Arbeiterpartei (PT)

Was vielen Linken Hoffnung bereitet: Im Abgeordnetenhaus werden zukünftig deutlich mehr Schwarze, indigene und LGBT-Politiker*innen vertreten sein. Im Senat wird das Bild anders aussehen. Dort werden in Zukunft viele ultrarechte Po­li­ti­ke­r*in­nen sitzen, unter anderem Bolsonaros ehemalige ­Familienministerin, die fundamentalistische Pastorin Damares Alves.

Für die Stichwahl wird es entscheidend sein, wohin die Wäh­le­r*in­nen der anderen Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­t*in­nen wandern. Zwar kamen diese zusammen noch nicht einmal auf 10 Prozent der Stimmen, sie könnten jedoch das Zünglein an der Waage sein.

Sowohl der Mitte-Links-Kandidat Ciro Gomes als auch die Konservative Simone Tebet versprachen noch am Wahlabend, sich nicht enthalten zu wollen. Es wird damit gerechnet, dass beide eine Wahlempfehlung für Lula abgeben werden. Bolsonaro könnte wiederum von den Siegen bei den Gouverneurswahlen in Rio de Janeiro und São Paulo profitieren. Außerdem könnte ihm das überraschend hohe Wahlergebnis ein Momentum verschaffen, glauben Analyst*innen.

Und es ist weiterhin damit zu rechnen, dass er die Ergebnisse anfechten wird, wenn er in der Stichwahl nicht gewählt wird. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl hielt sich Bolsonaro zurück, verkündete in den kommenden Wochen arme Bra­si­lia­ne­r*in­nen ­zu überzeugen und die Stichwahl in vier Wochen für sich zu entscheiden.

Auch Lula gab sich siegessicher. „Für uns ist das nur eine Nachspielzeit“, sagte er bei seiner kurzen Rede am Wahlabend zur Presse. „Aber wir werden die Wahl gewinnen“. Und dann ergänzte der für seinen Humor bekannte Ex-Gewerkschafter noch: „Es tut mir leid, ihr Journalisten müsst jetzt doch noch ein bisschen mehr arbeiten.“