kritisch gesehen
: Feministin setzt Wolfsburg unter Wasser

Dritte Welle, vierte Welle des Feminismus: wer blickt da noch durch, und: was unterscheidet die Wellen eigentlich? Über solche Fragen scheint die 1957 geborene Künstlerin Tamiko Thiel erhaben. Die Arbeiten der US-Amerikanerin mit deutschen und japanischen Vor­fah­r*in­nen fallen nämlich in die Kategorie Cyberfeminismus.

Diese künstlerische Spielart kam in den 1990er-Jahren auf, als immer mehr Frauen die Männerdomäne der computergestützten Kunst stürmten. Mit dem nötigen technischen Hintergrundwissen ausgestattet – einem entsprechenden Bachelor in Stanford absolviert und einen Master am M.I.T. – wandte sich Tamiko Thiel 1991 nach dem anschließenden Kunststudium in München ganz der Medienkunst zu.

Aktuell zeigt der Kunstverein Wolfsburg im Kontext des großen Ausstellungsvorhabens „Empowerment“ des lokalen Kunstmuseums eine Retrospektive Thiels mit rund zehn Arbeiten. In Wolfsburg gut bekannt, da zwischen 2005 und 2009 bereits dreimal an Gruppenausstellungen beteiligt, reicht der Querschnitt von Thiels Münchner Diplomarbeit „Golden Seed“ von 1991 bis zu ganz neuen Arbeiten wie der Deepfake-Installation „Lend me your face“. Hier kann je­de:r nach Einlesen des Konterfeis in ein Programm künstlicher Intelligenz zu mimischen Wie­der­gän­ge­r:in­nen von Greta Thunbergs „How dare you“, der Queen oder Donald Trump werden, um nur einige zu erwähnen.

Eine spielerische Komponente, aber immer im Bewusstsein eines möglichen kommerziell oder politisch missbräuchlichen Einsatzes, zeichnet alle Arbeiten Thiels aus. In der Fortschreibung ihrer 2018 fürs New Yorker Whitney Museum konzipierten Arbeit „Unexpected Growth“ setzt sie nun die Räume des Kunstvereins mitsamt Be­su­che­r:in­nen unter Wasser – in eine Landschaft aus natürlichen Korallen und wie organisch wachsenden Strukturen aus Plastikmüll. Diese ortsspezifische Transformation ist als Projektion in der Ausstellung zu sehen, kann aber auch auf privatem Gerät im umliegenden Schlossgarten abgerufen werden. Dann taucht sogar der historische Bau unter Wasser.

Meditativ ästhetischen Reiz entwickelt auch die Video- und Soundinstallation „Atmos Sphaerae“. Sie nutzt die grafische Qualität der Notationen von Molekularstrukturen für eine dystopische Geschichte der Erdatmosphäre: Der menschliche Hunger nach fossilen Energien sorgt dafür, dass sie sich sukzessive verfinstert. In realistischer Bildsprache hingegen lässt sie die Be­su­che­r*in­nen einen Kilometer Berliner Mauer erkunden, wobei es auf der Ostseite hin und wieder zu unangenehmen Begegnungen mit Vopos kommt. Bettina Maria Brosowsky

Tamiko Thiel: Diverse Realities, Kunstverein Wolfsburg. Bis 6. 11.