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Die Liebe des Pflegeroboters

Dieser Kuss-Lehrgang sollte in die Theatergeschichte eingehen. „Verrückt nach Trost“ von Autor und Regisseur Thorsten Lensing begleitet ein Geschwisterpaar durch ihr Leben. Die Sophiensäle sind Coproduzent

André Jung als Affe, Sebastian Blomberg als Schildkröte, Ursina Lardi und Devid Striesow als Charlotte und Felix Foto: Armin Smailovic

Von Katja Kollmann

Es geht um das große Ganze. Es geht um in die Welt geworfen sein, um Liebe und Tod. Thorsten Lensing, dieser eigenwillige Regie-Planet, der sich in lockeren Abständen gerne an die Bodenstation Sophiensäle in Berlin-Mitte andockt und mit Vorliebe SchauspielerInnen aus seiner Umlaufbahn mitbringt, ist dieses Mal auch unter die Dramatiker gegangen.

Lensing, als Regisseur geschult an Tschechow, Dostojewski und Foster Wallace, schreibt seinen HerzschauspielerInnen Ursina Lardi, Devid Striesow, André Jung und Sebastian Blomberg ein Stück auf den Leib mit dem Titel „Verrückt nach Trost“. Ein großer Wurf. Dreieinhalb Stunden wird das Leben vor einem gigantischen, die ganze Bühne einnehmenden Rohr in seiner elementarsten Ausprägung verhandelt (Bühne: Gordian Blumenthal, Ramun Capaul). In einer Zeitlosigkeit, die besticht. Lensing lässt, ein wunderbarer Lerneffekt beim Zuschauen, alles eigentlich Überflüssige weg, wenn man nur über das eigentlich Wichtige sprechen möchte: also keine Verortung in Zeit und Ort, keine Nationalitäten-Zuordnung und kein Hinweis auf den sozialen Status der Figuren.

Lensing begleitet Felix und Charlotte, gespielt von Ursina Lardi und Devid Striesow, durch ein ganzes Leben. Wir lernen beide als Kinder kennen, die ihre Eltern früh verloren haben. Nach der Pause erleben wir Felix als schwulen Mann in seinen Vierzigern und in der letzten großen Szene spielt Lardi die achtzigjährige Charlotte, die in der Konversation mit ihrem Pflegeroboter das letzte Mal auflebt und noch ein Mal über das Leben nachdenkt. André Jungs Pflegeroboter streckt sich hinauf zu ihr, die auf einem Hochstuhl sitzt, und sie beugt sich hinunter zu einem zarten trockenen Kuss. Unwillkürlich schiebt sich eine andere Szene vors innere Auge, als Charlotte noch ein Kind war und Felix mit und von ihr das richtige Küssen lernen wollte.

Ein von Lensing mit zartem Slapstick in Szene gesetzter Höhepunkt in einer Inszenierung, die vom ersten Augenblick an bis zum Schlussapplaus Tempo, Spannung und auch Entspannung mit einer Leichtigkeit trägt, die einfach nur Freude macht.

Devid Striesow, aus dem Lensing das absolut Maximale herausholt, steht in dieser frühen Kuss-Szene da wie ein Erstklässler, der geliebt werden will. Ursina Lardi positioniert sich vor ihm wie eine ältere altkluge Schwester. Dabei ist Charlotte erst zehn und Felix schon elf. Wie sich diese beiden DarstellerInnen der Persönlichkeit der beiden allein auf sich gestellten Kinder, die durch ihr Vater- und Mutter-Spiel ihre Eltern dem Tod entreißen wollen, annähern, ist berührend. Federleicht stemmen sie Lensings Text, der den Figuren im Kindes-und Erwachsenenalter poetisch-einfache Fragen und Ansichten in den Mund legt. Die Figuren bekommen dadurch eine elementare Aufrichtigkeit, die überzeugt.

Der praktische Kuss-Lehrgang muss in die Theatergeschichte eingehen. Noch nie ist so herzzerreißend unbeholfen und gleichzeitig so aufrichtig ernsthaft diese persönlichste aller menschlichsten Berührungen auf der Bühne gezeigt worden. Ohne Ironie, dazu sind die Figuren zu ernsthaft und zu sehr bei sich.

Die Figuren bekommen dadurch eine elementare Aufrichtigkeit, die überzeugt

Es gibt auch die Geschichte in der Geschichte, als die junge Charlotte ein Buch zur Hand nimmt und in die Erzählung von einem von seinen Eltern vernachlässigten Kind eintaucht. Und es gibt den aus dem Wasser wieder ausgespuckten lebensmüden Erwachsenen. Es gibt einen Affen, der sich seines Lebens erfreut und eine Schildkröte, die von Sebastian Blomberg gespielt auf der Bühne wunderbar entschleunigend wirkt. Außerdem gibt es einen weisen Oktopus, dessen neun Köpfe alle unterschiedlich denken. Alle Wesen inklusive Pflegeroboter werden von den vier SchauspielerInnen mit der gleichen Intensität gespielt und von der Regie so inszeniert, dass sie eine Gleichwertigkeit bekommen.

Hier findet eine bewusste philosophische Setzung statt kongruent mit dem Text, den man gerne zu Hause hätte als lebenspraktische Hilfe. Man wird sich definitiv erinnern an die Momente von leisem Humor, den nur geniale SchauspielerInnen wie diese hervorzaubern können. Verrückt nach Trost. Eine Sternstunde des Theaters. In jeder Hinsicht.

Hoffentlich gibt es eine Wiederaufnahme der Produktion, die bei den Salzburger Festspielen Premiere hatte, in Berlin, vorstellbar im Mai beim Theatertreffen. Oder man reist „Verrückt nach Trost“ einfach hinterher, zum Beispiel nach Hamburg, dort ist Kampnagel die Bodenstation für den Planeten Lensing. In Berlin sind die nächsten Vorstellungen in den Sophiensälen, die das Stück mit sieben weiteren Theatern und Festivals produziert haben, leider schon ausverkauft.

Wieder in den Sophiensälen am 7./8./9. Oktober.

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