Selbsthass in lustig ist reichlich vorhanden

Ruth Herzberg lässt ihre Erzählerin weiter über Sex, Liebe und neu über den Lockdown nachdenken: „Die aktuelle Situation“

Ruth Herzberg: „Die aktuelle Situation“. Mikrotext, Berlin 2022, 248 Seiten, 22 Euro

Von René Hamann

Irgendwo, vermutlich eher auf ihrem Insta-Account als im Buch, das lässt sich manchmal nicht so recht voneinander unterscheiden, gibt die Autorin Ruth Herzberg an, „demisexuell“ zu sein. Demisexuell, wir schlagen nach, bedeutet, dass „sexuelle Anziehung nur dann empfunden werden kann, wenn bereits eine emotionale Beziehung zum Gegenüber besteht“. Im Grunde also das, was viele Menschen als „normal“ bezeichnen würden. Was aber, sieht man sich die digital geleitete, neoliberale Wirklichkeit an, gar nicht mehr so normal ist. Denn dort herrscht gerne einmal eine Wisch-und-weg-Sexualität, eine, die sich nicht festlegen möchte, schon gar nicht emotional. Also eine, die gewöhnlicherweise als „männliche“ oder sogar als „toxisch männliche“ Sexualität konnotiert wird.

Es gäbe jetzt noch mehr Akademisches dazu zu sagen; von Niklas Luhmann, der die „Liebe als Zwangsbedingung für Sexualität“ nannte, oder Julia Kristeva, die meinte, jeder sexuellen Begegnung liege eine Form von Liebe zugrunde, fangen wir jetzt gar nicht erst an. Ruth Herzberg indes schreibt lustige, hinreißende, gut erzählte Bücher, die darum handeln, wie sehr sie beziehungsweise ihre Erzählerin Männer begehrt, sexuell wie emotional, und wie sehr diese Männer immer wieder nur eine „Enttäuschung auf zwei Beinen“ sind.

Auf ihren kleinen Erfolg „Wie man mit einem Mann unglücklich wird“ folgt jetzt leider nicht „Wie man mit einer Frau glücklich wird“, sondern „Die aktuelle Situation“, das ungefähr dasselbe Setting hat, außerdem aber auch ein Corona-Tagebuch ist oder ursprünglich war. Was, erster Seitenblick zur Kritik an diesem Buch in der SZ, nicht schlecht sein muss. Denn das Tagebuch oder der Blog bietet dem Roman eine Realitätsebene an; und Entwicklungen lassen sich so bis in die kleinsten Verschiebungen nachverfolgen. Also, Erzählerin sitzt mit zwei Kindern im ersten Lockdown zu Hause in Berlin-Prenzlauer-Berg, eingesperrt wie alle. Kindervater ist in Paris, von wo er erst mal nicht wegkommt. Der aktuelle Lover heißt „Der Böse“, aus offensichtlichen Gründen. Der bleibt auch erst mal weg, wird einerseits schriftlich angeschmachtet, andererseits niedergemacht: „Es ist allen immer so wichtig, die Wahl zu haben und zu behalten und nicht den Kopf zu verlieren, und da haben sie recht, und ich werde beim nächsten Mal besser aufpassen und beim nächsten Mal das Gegenüber auf jeden Fall viel weniger lieben, weil das einfach gesünder ist und man mehr vom Leben hat, wenn man weniger liebt.“

Also, hintersinnige Sentenzen zur Liebe, zum Leben, zum Sex und zum Irrsinn des Lockdowns gibt es hier seitenweise. Ruth Herzberg ist sich dabei für nichts zu schade; auch ihre eigene Figur, ihre Erzählerin, kommt eher so mittel weg. Heißt, auch Selbsthass in lustig ist reichlich vorhanden, und so etwas zu lesen ist immer gut.

Im weiteren Verlauf der Erzählung wird „Der Böse“ durch den „Großkünstler“ ersetzt, wobei dieser schon länger um die Erzählerin herumscharwenzelt ist, apropos Wahl und Begehren. Die zweite Ebene, die im, ja, doch: Roman (zweiter Blick in Richtung SZ) verhandelt wird, ist nämlich die Frage des Begehrens in Zeiten von Kontaktarmut und pandemiebedingten Zwangs­distanzen, Stichwort „social distancing“.

Über Sinn und Unsinn von „Demi­sexualität“, was im Wortsinn ja auch nur die halbe Wahrheit ist, reden wir dann noch mal.