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Über Trauer reden

Bei über 1.500 Bestattungen hat Gesine Palmer als Trauerrednerin Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen. Ein Gespräch über Verlust, was Menschen wichtig ist, was weitergegeben wird und „Feinstfühlarbeit“

Über ihre Erfahrungen aus mehr als 1.500 Beisetzungen berichtet Gesind Palmer in ihrem Buch: Tausend Tode. Über Trauer reden. PalmArtPress 2020, 150 Seiten, 20 Euro.

Von Annette Leyssner

Immer weniger Menschen fühlen sich an eine Kirche oder andere Glaubensgemeinschaften gebunden. So finden freie Redner zunehmend Platz in der Bestattungskultur. In Berlin stehen allein auf der Website der Arbeitsgemeinschaft freier Sprecher 25 Trauerrednerinnen und Trauerredner. Eine von ihnen ist Gesine Palmer.

taz: Frau Palmer, wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?

Als ich mich 2006 dazu entschied, hatte ich grade drei Trauerfälle in meiner Familie gehabt. Bei zwei der Trauerreden hatte ich das Gefühl: Jesus kommt zu schnell, über den Menschen wird zu wenig gesagt. Da dachte ich: Das würde ich anders machen. Trauerrednerin ist ein ungeschützter Beruf. Ich habe einen Flyer gestaltet und bin damit von Bestatter zu Bestatter gegangen, mit dem Anliegen, dass sie mich vermitteln. Das war anfangs mühsam. Einer hat gesagt: „Die Leute wollen keine Frau. Frauen sind klein und haben Piepsstimmen.“ Es hat eine Weile gedauert, bis ich an meinen ersten Auftrag gekommen bin.

Was definiert die Tätigkeit als Trauerrednerin?

Trauerrednerin, dieser Begriff umschreibt nur mäßig die damit gebotene Dienstleistung. Ich verstehe mich eher als eine Person, die in modernen wie in archaischen Kulturen die Grenze zwischen Tod und Leben rituell verwaltet. Ich will Betroffenen in diesem Übergang helfen: Vom Leben mit einem lebendigen Menschen in ein Leben mit nur noch Erinnerungen an die Verstorbenen.

In Deutschland ist niemand verpflichtet, irgendwen außer dem Bestatter zu rufen, wenn jemand stirbt. Warum rufen die Leute Sie? Was geben Sie ihnen?

Wie gesagt, bei mir steht der verstorbene Mensch im Mittelpunkt, nicht Jesus oder gängige allgemeine Wendungen über „Gottes Wille“. Ich leiste „Feinst­fühl­arbeit“, mache mich intuitiv auf die Suche nach dem, was dem verstorbenen Menschen wirklich wichtig war. Neulich bekam ich eine positive Rückmeldung: Eine nicht unkomplizierte Mutter und Großmutter hatte ich gewürdigt, ohne ihr einen falschen Heiligenschein zu verleihen. Das haben sie gemocht. Es ist möglich, milde und wahrhaftig zu sein.

Wie gestalten Sie die Feier?

Wir haben im Verband eine inoffizielle Liste der meistgewünschten Lieder. Es führt „Abschied ist ein scharfes Schwert“ von Roger Whittaker. Beliebt ist auch „Time to say goodbye“ von Andrea Bocelli. Das hat der Boxer Henry Maske bei seinem letzten Kampf spielen lassen, und es ist auf einem Kreuzfahrtschiffen ein beliebter Abschiedsgruß. Es geht natürlich immer nach den Kunden. Einer wünschte sich ein Lied mit der Zeile: „Schnaps. Das war sein letztes Wort. Dann trugen ihn die Englein fort.“

Musik ist aber nur ein Element.

Liturgische Elemente, also Zeremonien, weiß ich immer mehr zu schätzen. In unserer säkularen Gesellschaft herrscht ja eine regelrechte liturgische Abgeräumtheit. Es sind aber grade diese Dinge, die man nicht hinterfragt, die Menschen in der Trauerfeier helfen können: Man steht auf, man setzt sich hin. Man bekreuzigt sich. Meine Erfahrung ist: Es tut Menschen gut, am Grab zu stehen und gemeinsam etwas zu sprechen. Gerade in der Trauer halten sich Leute gern an den vertrauten Formulierungen fest. Manche sagen, sie wollten „nichts Religiöses“. Ein „Vaterunser“ wollen sie oft trotzdem.

Der Internationale Tag des Testaments ist in diesem Jahr am 11. September. Er wurde 2011 von gemeinnützigen Organisationen ausgerufen, um die breite Öffentlichkeit auf die Testamentsspende aufmerksam zu machen. Der Anlass dafür: Etwa drei Viertel der Deutschen gestalten ihren Nachlass nicht selbst und überlassen die Regelung stattdessen dem gesetzlichen Erbrecht. Dieses berücksichtigt ausschließlich die Familie eines verstorbenen Menschen. Wollen Erblasser mit ihrem Vermögen gemeinnützige Organisationen unterstützen, sie also als Erbe oder Vermächtnisnehmer einsetzen, braucht es dafür eine letztwillige Verfügung. Der Internationale Tag des Testaments soll alle, die das nicht wissen, darauf aufmerksam machen.

Welche Alternativen gibt es?

Alternativ schlage ich ein Gedicht von Andreas Gryphius vor. Es heißt „Betrachtung der Zeit“. Das teile ich dann an alle Gäste aus und wir sprechen es am Grab. Das Gedicht ist aus einer finsteren Zeit, dem Dreißigjährigen Krieg. Ob uns wirklich ein Himmelreich empfangen wird, wenn wir tot sind, das wissen wir so wenig wie wir wissen, ob wir den nächsten Einfall des Unglücks in unser Leben überleben werden. Wie also weiterleben, ohne von Angst zerfressen zu werden? Das lyrische Ich in diesem Gedicht antwortet: „Ich halte es nicht in der Hand. Und ich weiß nicht, ob da jemand ist, der es in der Hand hält und für mich zum Guten wendet. Ich soll glauben? Gut, dann sage ich, was ich glaube und für gewiss halte: Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.“

Das lässt Interpretationsspielraum.

Diese Zuversicht kann man auf zwei Weisen interpretieren: Ich glaube, dann kann ich gelassen sagen, ja, wenn ich nur wach und verantwortlich mit meinem Augenblick, den ich habe, umgehe, dann tue ich auf jeden Fall das Richtige, das, wozu mich mein Schöpfer geschaffen hat. Oder ich glaube gar nicht an den Schöpfer, dann glaube ich doch wenigstens an das Leben im Augenblick – und habe darin teil an der Weisheit, die jeden lebensbejahenden Menschen durchdringt, mag er nun an einen persönlichen Schöpfer oder an eine abstrakte Natur glauben.

Was sind Schwierigkeiten in Ihrem Arbeitsalltag?

Vernachlässigte oder fehlende Örtlichkeiten auf dem Friedhof machen die Arbeit nicht leichter. Wenn ich mal viel Geld haben sollte, werde ich eine Stiftung zur Einrichtung/Reparatur/Verschönerung von Toilettenanagen auf Friedhöfen gründen.

Welche Rituale oder Phrasen mögen Sie am Grab nicht?

Was ich nicht mag: Das Bild vom Tod als „Erlöser“. Dieses „sie/er wollte schon lange sterben“ – dem misstraue ich. Selbst wenn man weiß, dass man bald sterben muss: Die Zeit, die man bis zum Tode noch lebt, ist auch Lebenszeit. Da ist in unserer Gesellschaft Druck auf kranke und alte Menschen, „loslassen wollen“ zu müssen. Für mich ist das eine Achtungslosigkeit, eine Missachtung dessen, was Leben eigentlich ist. Immer wieder wird mir von Menschen erzählt, die endlich sterben durften. Ich sage „nein“ zum Tode. Ich stehe für das Bleibenwollen jedes Menschenkindes.

Täglich müssen Sie mit Tod und Trauer umgehen. Wie können Sie abschalten?

Foto: Gaëlle de Radiguès

Gesine Palmer hat nach dem Studium der Evangelischen Theologie, Judaistik und Allgemeinen Religionsgeschichte bis 2006 im akademischen Betrieb gearbeitet. Die Gestaltung von Trauer­feiern ist seit 2007 ihr Hauptarbeitsgebiet.

Wie alle, die solchen beruflichen Belastungen ausgesetzt sind, haben auch wir Trauerredner unseren schwarzen Humor, unsere Verhaltensweisen, die von Fachmenschen Entlastungsstrategien genannt werden. Ich unterhalte mich dann zum Beispiel mit dem Feierbetreuer vom Bestattungshaus über den Erfolg oder Nicht-Erfolg unserer letzten Diäten. Das muss sein, wenn du fast täglich sprichst in Gesichter, die weinen, konfrontiert bist mit verkrampften Familienszenen.

Braucht man im ständigen Umgang mit der Trauer Schutzräume?

Unbedingt. Das darf man ja kaum sagen, aber: Ich fahre immer mit dem Auto zu den Bestattungen. Nicht nur wegen der Zeitersparnis. Das Auto ist mein Schutzraum, mein Zufluchtsort. Manchmal höre ich da Kulturradio. Trotz aller Rituale: Es gibt Tage, da fühle ich mich schon angefasst. Ich bin Mitglied in zwei Berufsverbänden. Wir Kollegen sprechen regelmäßig über unsere Erfahrungen. Das hilft.

Wie stellen Sie sich Ihre eigene Beerdigung vor?

Ich hätte gern eine evangelische Beerdigung. Weil ich irgendwie an der Kirche hänge. Ich bin aus einer Theologenfamilie, selbst Mitglied der evangelischen Kirche und werde es bis an mein seliges Ende bleiben. Auch wenn ich nicht alles glaube, was da gepredigt wird. Mein Vater war Pfarrer in der sechsten Generation. Also würde ich hoffen, dass man eine nette Pfarrerin findet, und dass manche für mich „Befiehl du deine Wege“ singen mögen und vielleicht ein schönes „Lascia“ von Händel oder so was. Ich will ein Grab mit einem Stein und einen Hamamelisstrauch darauf, der im Winter blüht.