Gekommen, um sich abzuschaffen

Vor 30 Jahren entstand die erste deutsche Straßenzeitung. Corona und Digitalisierung treiben die Magazine in die Krise

Das Konzept kommt aus New York. Die britische „The Big ­Issue“ brachte die Idee 1991 nach Europa

Von Jan Zier

Wenn alles gut läuft, gibt es 2030 in Europa gar keine Straßenzeitungen mehr. Weil es dann keine Obdachlosigkeit mehr gibt. Denn das EU-Parlament hat beschlossen, sie bis dahin „zu beseitigen“.

Okay, keiner der Ex­per­t:in­nen glaubt wirklich daran. Auch die EU muss zugeben, dass die Zahl der Obdachlosen in Europa in den letzten zehn Jahren um mehr als 70 Prozent gestiegen ist, auf über 700.000 Menschen. Und das sind ja alles potenzielle Ver­käu­fe­r:in­nen einer Straßenzeitung. Mangels Bedarf eingestellt wurde bisher nur ein einziges Magazin, das Megafon aus dem norwegischen Bergen. Grund sei eine progressive Drogenpolitik, sagen die Macher:innen. Es schlief dort eh kaum noch einer auf der Straße, und für Suchtkranke gab es dann andere Lösungen.

Auch hierzulande wollen die in den vergangenen 30 Jahren etablierten Straßenzeitungen eigentlich gern überflüssig werden, sagt Bastian Pütter vom Magazin Bodo, das in Bochum und Dortmund erscheint, zugleich Sprecher der deutschsprachigen Straßenzeitungen. Derzeit sind sie aber eher existenziell bedroht.

„Es knirscht“, räumt Pütter ein, viele von ihnen mussten in den vergangenen Monaten „relevante Einbußen“ bei den verkauften Auflagen hinnehmen. Straßenzeitungen sind ein Saisongeschäft – richtig gut läuft es immer nur vor Weihnachten, doch dieses Jahr war der Verkauf im Frühjahr und Sommer viel schlechter als früher, vor Corona. Und während der Pandemie lief das Geschäft auch schon mies.

Hinzu kommt, dass die Papierkosten sehr stark gestiegen sind. In den Innenstädten, wo stets die meisten Straßenzeitungen verkauft werden, stehen viele Läden leer, es sind also weniger Käu­fe­r:in­nen unterwegs. Zudem sorgen die steigende Inflation und die Verunsicherung über den Ukrainekrieg dafür, dass weniger Geld für Nichtessenzielles ausgegeben wird, etwa für Straßenzeitungen. Und gespendet wird gerade oft anderswo, für Geflüchtete etwa.

Die weltpolitische Lage erschwert auch das Fundraising allerorten. Gleichzeitig wird das Leben der Ver­käu­fe­r:in­nen teuer. Ihre existenziellen Sorgen haben in der Pandemie zugenommen. Pütter spricht von „vielen psychischen Akutsituationen“ bei den Verkaufenden und einer „immensen Zunahme der Beratungstiefe“. Und es gibt mehr sichtbare Obdachlosigkeit in den Städten. An all dem können Straßenzeitungen wenig ändern. Sie eröffnen mit dem Verkauf eine niedrigschwellige Möglichkeit, wieder in eine Tagesstruktur zu kommen. Sie geben Have-nots die Chance, den Haves dieser Welt ein bisschen mehr auf Augenhöhe zu begegnen, wieder etwas wert zu sein, weil sie etwas von Wert verkaufen und nicht nur am Boden sitzen und betteln.

Die Ver­käu­fe­r:in­nen können selbst regeln, wann sie wie viel verkaufen. Sie müssen das aber auch, denn hier wird Kapitalismus in seiner reinsten Form gelebt: Die Ver­käu­fe­r:in­nen dürfen zwar die Hälfte des Erlöses behalten, müssen die Straßenzeitung aber auf eigenes Risiko einkaufen. Sie arbeiten als Frei­be­ruf­le­r:in­nen ohne Absicherung – Festanstellungen für Ver­käu­fe­r:in­nen gibt es in Deutschland nur bei dem Münchner Straßenmagazin Biss. Eine Straßenzeitung zu verkaufen kann zwar Selbstwert vermitteln, aber nur jenen, die ihre Scham überwinden, sich zu outen: „Dann weiß ja jeder, dass ich wohnungslos bin“, lautet ein Einwand, den man öfter hört.

Biss (Bürger in sozialen Schwierigkeiten) gehört neben dem Draussenseiter aus Köln und Hinz&Kunzt aus Hamburg zu den ältesten Straßenzeitungen hierzulande, der Draussenseiter wird gerade 30, die anderen beiden werden es kommendes Jahr. Das Konzept kommt aus New York, wo 1989 die Street News entstanden. Die britische The Big ­Issue brachte die Idee 1991 nach Europa. Heute gibt es in Deutschland rund 30 Straßenzeitungen, schätzt Pütter. Sie alle arbeiten in voneinander abgegrenzten Regionen, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen.

Doch während im deutschsprachigen Raum vergleichsweise viele solcher Magazine existieren, gibt es laut der Karte des International Network of Street Papers (INSP) in Frankreich, Belgien oder Spanien kein einziges, in Polen, Tschechien oder Portugal nur eines.

In Deutschland kann man die Straßenmagazine als eine Art Nachfolger der Alternativpresse sehen, die aus den damals neuen sozialen Bewegungen kam, vielfach aber die Achtziger nicht überlebte oder in zunehmend kommerzialisierten Stadtmagazinen endete. Auch die Straßenzeitungen verstehen sich heute nicht nur als Lobby, sondern oft auch als „soziale Stadtmagazine“, sagt Pütter. Dabei sind sie redaktionell zunehmend professioneller geworden. Und während ihr Fokus anfangs oft ein stark sozialpolitischer war, sind sie heute stärker lokaljournalistisch orientiert – auch jene Blätter, die nicht wie die 2010 gegründete Zeitschrift der Straße (ZdS) in Bremen von Anfang an auf dieses Konzept setzten.

Wenn die Le­se­r:in­nen stets mit Not und Elend konfrontiert werden, ist ihnen das auf Dauer zu viel; allein aus Mitleid gekauft zu werden, ist wirtschaftlich keine erfolgversprechende Idee mehr. Zugleich muss ein Straßenmagazin nicht nur für die oft besser verdienenden und bildungsbürgerlichen Käu­fe­r:in­nen attraktiv sein, sondern vor allem für die Verkäufer:innen. „Der Wurm muss nicht nur dem Fisch, sondern auch dem Angler schmecken“, sagte ZdS-Mitbegründer Michael Vogel mal, ein BWL-Professor.

Die Ver­käu­fe­r:in­nen, das sind nicht nur oft suchtkranke Obdachlose, das sind auch Wohnungslose, die nicht auf der Straße schlafen, aber keine eigene Wohnung haben, Armutsrentner:innen, Geflüchtete und Mi­gran­t:in­nen aus Osteuropa, die hier gar keine Ansprüche auf Sozialleistungen haben und hier trotzdem oft besser dran sind als im alten Zuhause.

Doch die zunehmende Digitalisierung aller Medien bedroht Straßenmagazine existenziell – sie leben schließlich davon, dass Verkaufende ein gedrucktes Exemplar in der Hand halten. Alle digitalen Experimente waren bisher wenig erfolgreich.

„Es ist kein wachsender Markt“, sagt Pütter über die Straßenzeitungen, dabei ist Armut ja eher eine Wachstumsbranche. Und das zahlende Publikum ist, wie bei anderen Printmedien halt auch, „recht alt“. Pütter spricht vom „Exotenbonus“ der gedruckten Straßenmagazine und von der „Diversifizierung“ der Projekte, die ja stets an soziale Träger angebunden sind, Sozialarbeit machen, Cafés und Buchläden betreiben, soziale Stadtrundgänge anbieten, in Housing-First-Projekte eingebunden sind.

Es könnte trotzdem sein, dass Straßenzeitungen am Ende mangels Nachfrage eingestellt werden. Und nicht deshalb, weil es keine Obdachlosen mehr gibt.

Der Autor war von 2016 bis 2021 Chefredakteur der Zeitschrift der Straße in Bremen