Die Zukunft braucht Druck

Abseits des Skandals zeigt das Kunsthaus Göttingen als Documenta-Außenstelle „printing futures“: Arbeiten, die nostalgiefrei Einspruch erheben gegen die Durchdigitalisierung

Dayanita Singhs „Book Building“ führt die Idee der Reproduktion mit Büchern als Unikate ad absurdum Foto: Dayanita Singh/ Kunsthaus GT

Von Bettina Maria Brosowsky

Zu den letzten drei Documentas (oder heißt es Documenten?) hatte sich die kleine Tradition eingebürgert, dass das Sprengel-Museum in Hannover, zusammen mit der Kestner Gesellschaft und dem lokalen Kunstverein, zum zeitgleichen Gemeinschaftsprojekt „Made in Germany“ lud.

Unter diesem missverständlichen Titel ging es den Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen keineswegs um ein teutonisches Gegenprogramm zum Internationalismus der Kasseler Weltkunstschau, sondern um Bedingungen und Möglichkeiten künstlerischer Arbeit in Deutschland. Das hatte schon der erste Katalog 2007 klargestellt. Die Ausgaben von Made in Germany waren deutsch durchgezählt worden und so ging man stillschweigend davon aus, dass in diesem Jahr nach den Nummern eins, zwei und drei parallel zur „documenta fifteen“ auch „Made in Germany Vier“ folgen würde.

Und diese „kleine Neben-Documenta“, wie die taz zur zweiten Veranstaltung 2012 einmal titelte, hätte dieses Jahr vielleicht sogar Chancen gehabt, der großen Schwester den Rang abzulaufen, während die im unauflösbaren kuratorischen Antisemitismus-Skandal ihrer Agit-Prop-Exponate aus dem globalen Süden versinkt. Bloß: Es gibt in diesem Jahr kein „Made in Germany Vier“.

Die Gründe sind vielfältig: Planungsunsicherheit in Zeiten von Corona, Leitungs- und Personalwechsel in den drei beteiligten Institutionen, vielleicht auch nicht mehr ganz so üppig fließende Fördergelder. Dafür wartet Göttingen jetzt mit zwei offiziellen Partnerprojekten der Documenta auf. Eines davon im Imperium des Verlegers anspruchsvoller Druckwerke, Gerhard Steidl, dessen Kunsthaus erst seit Frühjahr 2021 seine Pforten geöffnet hat. Selbstbewusst nennt sich seine Ausstellung „printing futures – art for tomorrow“, aber genauso wäre ihr etwas biederer Arbeitstitel „House of Paper“ zutreffend gewesen.

Denn alle elf beteiligten, selbstredend internationalen Künst­le­r:in­nen beschäftigen sich mit Papier, dem Gedrucktem oder dem aufwendigen Fotoband als Buch. Papier ist empfindlich und taktil, aber auch zäh und langlebig. Mit Papier kann man ganz bewusst ganz andere Dinge tun als mit einem oder am Bildschirm, ein Medium, das auch in der Kunst immer weiter um sich greift. Papier lässt sich reißen, falten, bedrucken oder, speziell präpariert, als Fotopapier belichten.

Manche Werke aus Papier lassen sich zu Büchern binden – und daraus lassen sich wiederum komplette Rauminstallationen herstellen. Das demonstriert die indische Fotografin Dayanita Singh im Erdgeschoss des Kunsthauses. „Book Building“ heißt das Ganze, natürlich mit neuem Begleitband bei Steidl. Singh, der bis in den August hinein noch eine große Ausstellung im Berliner Gropius Bau gewidmet ist, betont den Unterschied, ein Buch zu „machen“ und eines zu „bauen“. In Steidl findet sie seit Jahren einen Verleger, der dieser Obsession folgt und auch schon mal bereit war, ihr 2015 erschienenes Fotobuch „Museum of Chance“ mit unterschiedlich farbigen Leineneinbänden sowie 44 verschiedenen Frontcovern und noch einmal so vielen Fotorückseiten zu versehen.

In Gestellen aus Teakholz lassen sich diese Unikat-Bände zu kleinen Ausstellungen auf dem Tisch oder zu großen Paravents arrangieren, so man denn genügend Varianten erworben hätte. Ein kleineres, mobiles Museum war ihre 2017 erschienene, mittlerweile vergriffene Box mit neun Leporellos, etwa zu einem Möbel-, einem Fotografie- oder einem Maschinen-Arrangement, das „Museum Bhavan“. Bücher können den gleichen, wenn nicht sogar einen größeren künstlerischen Wert haben als Flachware, die an einer Galeriewand hängt, so das Credo von Steidl und Singh.

Bei ihr ist alles von Hand konzipiert, mit Schere und Klebstoff, wie es sich für Papier gehört. Das führt auch zu den subtilen Kenntnissen Singhs übers Papier, etwa zu speziellen Momenten, wenn es altert. Der traurigste Geruch sei der von nassem Papier, schreibt sie, der problematischste Aspekt des Papiers sicherlich der seiner Staub­entwicklung. Asthma und Papier gehören somit symbiotisch zusammen, der aschfahle Gesichtsausdruck der Bibliothekare und Archivare ist sein sichereres Zeichen. Aber: Das Fieber der Bibliophilen wird nobel erlitten.

Papier ist empfindlich und taktil, aber auch zäh und langlebig. Mit Papier kann man ganz bewusst ganz andere Dinge tun,als mit einem Bildschirm

Sichtlich entspannter geht Sibel Horada ans Werk. Die Künstlerin aus Istanbul nimmt mit dem Pinsel symbolisch Farben verschiedener Oberflächen des Taksim-Platzes auf. Der steht wie kein zweiter Ort in der Türkei für die Proteste gegen das Regime Recep Tayyip Erdoğans. Mit echter Farbe marmoriert sie dann Zeitungspapier vor Ort, sehr dekorativ per Video dokumentiert, in dem mehr oder weniger leeren Brunnenbecken am Denkmal der Republik, das unter anderem Mustafa Kemal Atatürk gewidmet ist.

Ganz offen aktivistisch ist der Beitrag von Sofia Karim, in London lebende Künstlerin mit Wurzeln in Bangladesch. Dort nutzt etwa der Straßenverkauf einfache Tüten aus Altpapier, unter anderem aus Akten und Gerichtsdrucksachen. Als Karims Onkel inhaftiert wurde, drehte sie den Spieß um und entwickelte Protesttüten, die die Freilassung politisch Verfolgter fordern. In Göttingen kann man auch zwei aktuelle Petitionen unterzeichnen, die Karims internationale Kunstgruppe Turbine Bagh unterstützt.

Zum Inventar Steidls zählt Jim Dine, US-amerikanischer Vertreter der Pop-Art. Ihm ist nicht nur ein Pavillon im Hof des Kunsthauses gewidmet, in einem morbiden Fachwerkhaus ein paar Häuser entfernt zele­briert er eine weitere Totalinstallation. Sie umfasst Wandbeschriftungen und das Video eines Hassgedichtes gegen beklagenswerte Zustände in den USA, vorrangig in der Gestalt Donald Trumps, sowie grafische Arbeiten.

Diese vermitteln nun genau das Gegenteil, sind großformatige, farbintensive Darstellungen von Pflanzen, Blättern, Blüten und Früchten, frei aufgehängt in den Fachwerkgerippen. Eine optimistische Sommer­brise lässt sie in den Räumen flattern: unter den gegenwärtigen Umständen sicherlich nicht die schlechteste Form, das Leben offensiv zu feiern.

„printing futures – art for tomorrow“, Kunsthaus Göttingen, bis 25. 9.