Ausgehen und rumstehen von Jenni Zylka: Rückwärts durch die Nächte
Von wegen Ntz Ntz Ntz. Dass die 20-jährigen Suffköppe, die am Wochenende rudelweise durch die U-Bahn torkelten, nicht etwa Abiturient:innen beim Feiern der Matura, und die Älteren in um die Mitte spannenden Glitzeroutfits nicht deren stolze Eltern sind, das wurde mir erst klar, als ich am Samstagnachmittag aus Versehen am gesperrten Ku’damm ausstieg und die Reste der soeben vorbeigezogenen Parade ausmachte. Sogleich fiel es mir wie bunte Haarspangen aus den 90s-Zopfknödelchen: Ach ja, man trifft sich zum friedlichen Jubiläums-Raven. Bestimmt werden nebenan auch wieder konsensuelle Loveparade-Pornos gedreht. „Wer hat denn dafür die Stehgenehmingung erteilt?!“, hatte die BZ dereinst diesbezüglich geschenkelklopft, bru-haha.
Überhaupt schien das Wochenende unter dem Motto: „Rückwärts immer, vorwärts nimmer“ zu stehen, was mir gar nicht so viel ausmachte, denn es bedeutete in diesem Fall, alte, genügsame Freund:innen zu treffen, die lange nicht mehr in der Stadt waren und sich über alles freuen, was man ihnen anbietet: Buchstabenmuseum? Wow! Essen gehen? Klaro! Pommes ist ok! Cocktails trinken? Kinky! Mir reicht eh ’n Bier! Eure Auswahl ist klasse!! – Jaja, Belin ist eine Leise welt.
Am Samstagabend hatten sich jedoch die Genügsamen und damit auch meine Genügsamkeit verabschiedet, und ich ließ mich von einer Freundin zum Besuch einer 80s-Party im SO36 überreden – sie hatte vorgetäuscht, dass Punk und New Wave aufgelegt würden, und an mein Tanzbedürfnis appelliert. Dann liefen aber doch nur Madonna mit „La Isla Bonita“ und solche Dinge. „Als True Blue herauskam, gingen alle Mädchen aus meiner Klasse in die Drogerie und kauften sich Blondierung“, sinnierte meine blonde Freundin und ließ durchblicken, dass auch ihr eigener Schopf eigentlich dunkler ist. Schockiert rückte ich von ihr ab in die Nähe der glücklichen, queeren Paare, die sich auf der Tanzfläche zu „Alive and Kicking“ in den Armen lagen, um danach bei Laura Branigans „Self Control“ laut „I live among the creatures of the night“ mitzugrölen (was ich angesichts des eher chormädchenhaft braven Branigan-Vibe als Textzeile schon damals ziemlich unglaubwürdig fand).
Aber wo wir schon beim Kreatürlichen sind: Ebenso überzeugt, eine echt wilde Nachthummel zu sein war bekanntlich Sandra, deren sexpositiver Selfempowerment-Song „(I’ll Never Be) Maria Magdalena“ mit der Zeile „You’re a creature of the night!“ übrigens – neben ihrem merkwürdigen Ehemann Michael Cretu – auch Hubert Kah und das Ex-Supertramp- und King-Crimson(!!)-Mitglied Richard Palmer-James verantwortet hatten, ein wahrhaft eklektischer Autorenmix. Mir wurde es dennoch irgendwann zu viel zwischen den 80er-Jahre-Nachtkreaturen, spätestens als Nenas „Nur geträumt“ aufgelegt wurde.
Und ich will ja kein Partypooper sein, obwohl, irgendwie doch: Ich habe nicht vergessen, welchen unfassbaren Müll zum Thema Coronamaßnahmen Nena im letzten Jahr anlässlich eines Open-Air-Konzerts in Berlin verzapft hat, bei dem ich zugegen war. Darum stapfte ich beim ersten „Ich bin total verwirrt / Ich werd verrückt, wenn’s heut’ passiert“ demonstrativ aus dem SO hinaus und dachte an den Kollegen Jochen Schmidt, der in dieser Zeitung einst seine Nena-Misheard-Lyrics-Erfahrung geteilt hatte: „Ich bin total verwehrt“. Verwehrt ist in diesem Fall nämlich definitiv das passendere Wort.
Am Sonntag versuchte ich erfolglos, auf dem Flohmarkt einen Ottomanen zu finden (ich meine das Möbelstück), und summte dabei Wet Legs „Chaise Longue“ in Dauerschleife, mit nur leicht den Umständen entsprechend verändertem Text. Falls es in 40 Jahren eine 2020s-Party im SO gibt, würde ich zu DIESEM Song sofort tanzen, Rollator hin oder her. Versprochen.
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