: Vier statt eine
Was wäre, wenn Fürsorge-, politische und kulturelle Arbeit der Erwerbsarbeit gleichgestellt wären? Frigga Haugs Idee einer solidarischen Gesellschaft
Von Sibylle Disch
Die Kinder waren noch nicht im Kindergarten, da kamen schon die Fragen, wann ich wieder „arbeiten“ gehe. Anfangs machte mich das sprachlos, hatte ich doch nicht den Eindruck, nicht zu arbeiten. Ganz im Gegenteil. Nach sechs Jahren im Verlagswesen, selbst finanziertem Wirtschaftsstudium und zehn Jahren Selbstständigkeit in der Erwachsenenbildung war und ist Kinder ins Leben begleiten und mich zivilgesellschaftlich zu engagieren der schönste und anstrengendste aller Jobs – auch wenn es keine gesellschaftliche Anerkennung dafür gibt.
In unserer Gesellschaft ist Arbeit als Erwerbsarbeit definiert. Doch Erwerbsarbeit ist ohne Reproduktionsarbeit nicht möglich, diese muss also auch angemessen bezahlt werden.
Liebe Entscheider:innen in Wirtschaft und Politik, wer hat euch den Popo abgeputzt, Euch ins Bett gebracht und Einschlaflieder gesungen, das Schulbrot geschmiert, ein Pflaster aufs Knie geklebt, bei den Hausaufgaben geholfen und beim ersten Liebeskummer getröstet? Wer sorgt jetzt dafür, dass die Hemden gebügelt sind, der Anzug gereinigt und der Kühlschrank mit Feinkost gefüllt? Wer versorgt eure alten Eltern? Frauen, die einen Hungerlohn bekommen oder überhaupt nicht bezahlt werden.
Auch wenn das alles lange bekannt ist und kreuz und quer diskutiert wird – geändert hat sich für Reproduktionsarbeiter:innen nichts. Im Gegenteil. Die Klagen aus Unternehmen über das sinkende Bildungsniveau und den mangelnden Respekt der heutigen Schulabgänger:innen sind das Ergebnis dieser Haltung. „Kinder kannst du nicht erziehen, sie machen dir sowieso alles nach“ heißt nichts anderes als dass Familie – im Sinne eines stabilen sozialen Bezugssystems – für Kinder in den ersten Jahren entscheidend ist. Erleben sie hier Geborgenheit, Zuwendung und Gleichwürdigkeit, dann können sie Eigensicherheit und soziale Kompetenzen entwickeln. Von den Eltern erfordert das eine unbedingte Hingabe, denn Kleinkindbedürfnisse können nicht warten oder ausdiskutiert werden.
Familien geben unserer Gesellschaft Kontinuität. Sie stehen im Zentrum und brauchen besonderen Schutz. Doch das männlich dominierte Herrschafts- und Wirtschaftssystem des Ressourcenverbrauchs zur Renditeoptimierung zeigt schon lange, dass es nicht in der Lage ist, diesen Schutz und die damit verbundene Wertschätzung umzusetzen. Im Gegenteil, Familien werden immer weiter an den Rand gedrängt, Mütter, die schon in der Schwangerschaft ihren Körper solidarisch mit ihrem Kind teilen und im Anschluss 24/7 Fürsorgearbeit leisten, erfahren keinerlei gesellschaftliche Anerkennung. Verabschieden sich dann noch die Väter aus dem System, haben Mütter endgültig verloren.
Wie wäre es, ein neues menschenwürdiges und solidarisches Gesellschaftsmodell auszuprobieren? Eine im wahren Wortsinn neue Räume eröffnende Idee ist die „Vier-in-einem-Perspektive“ von Soziologin Frigga Haug, die sie in einem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2008 vorstellt. Haug schlägt in ihrem Modell vor, dass neben der Erwerbsarbeit auch die Fürsorgearbeit, politische und kulturelle Arbeit als menschliche Arbeit anerkannt werden und die 16 Stunden, die allen pro Tag zur Verfügung stehen (plus 8 Stunden für Schlaf), gleichmäßig auf diese vier Bereiche aufgeteilt werden. Damit ergibt sich eine 20-Stunden-Woche als neue Vollzeit-Erwerbsarbeit.
Klar hat eine solche Umstellung Auswirkungen auf die heilige Kuh „Wirtschaftswachstum“. Ein Blick auf den jährlichen Erdüberlastungstag – also den Tag, an dem wir alle Ressourcen, die uns für das Jahr zur Verfügung stehen, schon verbraucht haben und der in jedem Jahr eher eintritt, in diesem Jahr schon am 4. Mai – zeigt deutlich, dass diese heilige Kuh eine bald schon sehr endliche Größe ist. Unsere Gesellschaft braucht dringend eine solidarische Ausrichtung.
Doch nicht nur die Fürsorge für Kinder ist eine in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem ausgeblendete Größe. Auch unser Gemeinwesen lebt davon, dass sich Menschen einbringen. Demokratie lässt sich nicht delegieren – sie geht uns alle an. Wie bunt und vielfältig unsere Parlamente vom Gemeinde-Bürger:innen-Rat bis zum Bundestag in Zukunft besetzt sein könnten, wenn wir 4-in-1 praktizieren. Und wie wir uns darin wiederfinden könnten, statt „auf die da oben“ zu schimpfen.
Bleibt noch die kulturelle Arbeit. Hier finden sich alle wieder, die schon Sorge um ihre Freizeitgestaltung haben. Auch das ist Arbeit, denn auch wenn wir als sozial-kooperative Wesen geboren werden, braucht es andere Menschen, um nicht nur äußerlich zu wachsen und zu reifen.
Es ist an der Zeit, das kapitalzentrierte System unseres Zusammenlebens zu verabschieden und in ein solidarisches Gemeinschaftsmodell zu wechseln, in dem der Mensch und nicht die Rendite im Mittelpunkt steht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen