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Man will seinen Kopf aufessen

Ist das schon Kunst oder doch nur ein Tattoo-Studio? Beim Stadtteil-Festival „48 Stunden Neukölln“ verschwimmen die Grenzen zwischen Performance und dem üblichen Gewusel in den Straßen

Von Andreas Hartmann

Man erkennt die Besucher und Besucherinnen von „48 Stunden Neukölln“ an den riesigen Faltplänen, die sie in den Händen halten und die sie sich an einem der drei Infostände der riesigen Kunstshow besorgt haben. Mit Erstaunen und garantiert dem Gefühl, ein wenig überfordert zu sein, blicken sie auf die Karte von Neukölln, in der um die 180 Anlaufstellen eingetragen sind.

Der Stadtteil kommt einem plötzlich wirklich riesig vor. Von der Schillerpromenade über den Körnerkiez und zig weitere Kieze hin zum Richardplatz lässt sich ein Rundgang planen – für den man ganz schön viele Kilometer fressen muss. Und überall, in Kneipen, Galerien, Hinterhöfen und sogar einer stillgelegten Tankstelle auf der Sonnenallee, gibt es etwas zu sehen. Wer alles mitnehmen will bei „48 Stunden Neukölln“, braucht dafür eigentlich viel mehr als 48 Stunden.

Das Motto des diesjährigen Stadtteil-Kunstfestivals lautet nach einer türkischen Redewendung „Kafayi Yemek“, was wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt: „Ich esse meinen Kopf“. Als Reaktion auf ein als extrem empfundenes Ereignis, das einen müde macht, sagt man im Türkischen sehr oft diesen Satz.

Klimakrise, Corona und Mietenwahnsinn in Berlin sind beispielsweise so Themen, wie man auf der Homepage des Festivals erfährt, zu denen man wie nebenbei erwähnen könnte, dass einem gerade danach sei, seinen eigenen Kopf zu verspeisen.

Inwieweit nun im Einzelnen all die Installationen, Performances und sonstigen Kunstwerke bewusst dieses Motto interpretieren, lässt sich nur schwer sagen. Es ist, wie bereits angedeutet, einfach unmöglich, alles abzuklappern. In der Rütli-Schule gibt es eine Fotoausstellung mit Porträts von Jugendlichen, die darauf tatsächlich etwas ermattet aussehen. Aber schon bei der nächsten Musikperformance sind eigentlich alle nur gut drauf und niemand scheint an etwas zu denken, was ihn dazu bringen könnte, seinen Kopf aufzuessen. Dem Wetter entsprechend verlagert sich das bunte Treiben in Neukölln stark von drinnen nach draußen. Man ist eigentlich jedes Mal froh, wenn man nach der Kunstbetrachtung im stickigen Inenraum wieder im Freien steht, wo man mit anderen Besuchern und Besucherinnen abhängen kann. Draußen bieten auch noch viele Essen gegen kleines Geld oder eine Spende sowie kalte Getränke an. Win-win also.

In manchen Gegenden von Neukölln muss man ewig latschen, um von einem zum nächsten künstlerischen Hotspot zu gelangen. Rund um die Weserstraße wirkt dagegen alles wie ein einziges großes „48 Stunden Neukölln“.

Das Motto lautete „Kafayi Yemek“, nach einer türkischen Redewendung

Man fragt sich, ist das hier einfach nur ein Tattoo-Laden, der jetzt halt auch noch am späten Samstagabend geöffnet hat oder ist das ein Tattoo-Laden, in dem es Kunst zu sehen gibt. Bei diversen Kneipen wiederum hängt an der Türe das obligatorische „48 Stunden Neukölln“-Logo und dennoch gibt es drinnen nicht anderes zu bestaunen als ein paar Gäste vor ihren Kaltgetränken. Eine Kneipenfassade dagegen ist behängt mit Abrisszetteln, auf denen die Frage formuliert wird: „Warum sind wir hier?“ Wer eine Antwort darauf wisse, möge doch bitte eine E-Mail an die angegebene Adresse schicken. Wahrscheinlich ist das auch Kunst. Vielleicht hängen die Zettel aber auch immer hier.

Irgendwann verschwimmt einem einfach die eigene Wahrnehmung. Man trennt nicht mehr zwischen Kuntinstallation und dem unübersichtlichen Gewusel auf den Straßen. Alles geht ineinander über und wird zu einer gigantischen Langzeit-Performance. Hier verkaufen türkische Muttis Essen, dort in und vor einem Laden, der sich „Paolo Pinkel“ nennt, herrscht schon ausgelassene Partystimmung, obwohl noch nicht einmal die Sonne untergegangen ist.

All das zu sehen und zu erleben wird einfach Teil der Erfahrung, ein paar Stunden bei „48 Stunden Neukölln“ mit dabei gewesen zu sein.

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