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Verortet in Europa

Die Annäherung an die EU hat in der Ukraine eine lange Vorgeschichte

Von Barbara Oertel

Im Jahr 2015 wähnt sich der ukrainische Staatschef Wolodimir Selenski bereits in der EU. Die Krim ist von Russland annektiert, im Donbass herrscht seit einem Jahr Krieg. Selenski, im Hauptberuf Schauspieler, heißt Wassyl Holoborodko und gibt den Präsidenten in der Comedy-Serie „Diener des Volkes“. Plötzlich erhält er einen Anruf von Kanzlerin Angela Merkel, die der Ukraine den EU-Beitritt anbietet, dann aber einen Rückzieher macht. Eigentlich habe sie in Montenegro anrufen wollen. Falsche Nummer, dumm gelaufen.

Heute ist die Lage angesichts des russischen Vernichtungskrieges eine andere, Kanzler Olaf Scholz will die Ukraine tatsächlich zum Beitrittskandidaten machen. Er entspricht damit einer alten Forderung der ukrainischen Regierung. Die will keine Vorzugsbehandlung von Brüssel, sondern schlicht die Zuerkennung des Kandidatenstatus – wohl wissend, dass der Aufenthalt im Vorzimmer der EU Dekaden dauern kann.

Der Wunsch, Teil der europäischen Familie zu werden, hat in der Ukraine bereits eine lange Vorgeschichte. November 2004: Der Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) hat sich in ein oranges Fahnenmeer verwandelt. Ab und zu ist auch eine blaue Europa-Flagge zu entdecken. Zehntausende demonstrieren wochenlang und bei Minusgraden gegen die gefälschte Präsidentenwahl von Wiktor Januko­witsch, für den Wladimir Putin vor Ort eifrig Wahlkampf gemacht hat. Schließlich haben sie Erfolg – aus Neuwahlen geht Wiktor Juschtschenko als Sieger hervor. Er kündigt an, die euro-atlantische Integration vorantreiben zu wollen, was jedoch ein leeres Versprechen bleibt.

Dennoch: Die Orange Revolution markiert in der Ukraine das Ende der Post-Sowjet-Ära. Die Selbstwahrnehmung der Ukrai­ne­r*in­nen ändert sich. Die nationale Identität gewinnt an Bedeutung, vor allem die Jugend verortet sich zunehmend in Europa. Das geht einher mit einer Abkehr von Russland. Diese Absetzbewegungen wertet der Kreml als Verrat. Schon bald ist das Schreckgespenst der farbigen Revolution geboren, die, angeblich heimtückisch aus dem Ausland finanziert, als Virus dargestellt wird, das auch auf Russland überspringen könnte. Dieses Narrativ bemüht Moskau bis heute.

November 2013: Wieder stehen Zehntausende auf dem Maidan, diesmal ist das EU-Blau die dominante Farbe. Der Aufruhr richtet sich gegen Staatschef Wiktor Janukowitsch, der sich im letzten Moment geweigert hat, ein Assoziierungsabkommen mit Brüssel zu unterzeichnen. Insgesamt fordern die Proteste auf dem Euromaidan 130 Tote. Die Ereignisse zeigen, dass die Ukrai­ne­r*in­nen bereit sind, einen hohen Preis für die Verteidigung europäischer Werte zu zahlen.

Das tun sie jetzt erst recht. Und wen wundert es da, dass Wolodimir Selenski stellvertretend für seine Landsleute umso lauter an die Türen in Brüssel klopft. Schließlich geht es für die Ukraine um die existenzielle Frage: Sein oder Nichtsein. Und um ein Zeichen von hoher Symbolkraft, das gerade in Kriegszeiten nicht zu unterschätzen ist. Wie sagte Selenski am Mittwoch im tschechischen Parlament: „Die Ukraine braucht grundlegende Unterstützung, die Russland endlich seine ­ideologische Hauptwaffe aus den Händen schlagen wird – nämlich die Behauptung, dass Europa zu einer wirklichen Vereinigung nicht fähig ist und dass Europa die Ukraine nicht braucht.“ Jetzt ist Brüssel am Zug.

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