piwik no script img

Gedichte von Maria StepanovaDie Skrupellose

Maria Stepanova gehört zu den herausragenden russischen Dichterinnen der Gegenwart. Ihre Lyrik fängt den postsowjetischen Alltag ein.

Das Gedicht schwankt zwischen Hoffnung und Urteil, Hinrichtung und Rettung: Maria Stepanova Foto: Vyacheslav Prokofyev

Kein Gedicht steht für sich allein. Maria Stepanova hat eine auffällige Vorliebe für Gedichtzyklen, in denen verschiedene Grundideen umkreist und zum Sprechen gebracht werden. Dabei stellen sich immer wieder neue Zusammenhänge her.

Der erste Zyklus, der wie das gesamte Buch „Mädchen ohne Kleider“ heißt, reißt einige Motive an: Nacktheit, ein Baum, die Erde. Sie werden immer weiter verfolgt, und die Assoziationen gehen dabei von Mädchen aus, die sich ständig einem dominanten männlichen Blick stellen müssen, dem unbedingten Machtanspruch, der Verfügbarkeit, der Gewalt.

Durch die Einbettung in ein bestimmtes Wortfeld, das eine Landschaft oder auch abstrakte Vorstellungen aufruft, bekommt diese Grundsituation eine weitere Dimension, die ins Gesellschaftliche und Historische ausgreift. Es geht um das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung, und untergründig hat alles eine russische Färbung.

Autokratische Strukturen

Im Zentrum steht die Unterdrückung durch eine autokratische Struktur. In der unmittelbaren Gegenwart tritt das umso mehr im Mann-Frau-Verhältnis zutage: „Immer sind irgendwo Mädchen ohne Kleider. / Immer ist da etwas, das an ihnen frisst. / Immer ist da etwas, das von ihnen bleibt. / Immer ist da etwas für immer vorbei.“

Viele dieser Gedichte beginnen mit dem Wort „Immer“, um die Zeitlosigkeit zu akzentuieren, ein Ausgesetztsein. „Immer ist da eine Jahreszeit“, das ist der Beginn, und die nächsten Gedichte fangen an mit „Immer ist Frühling“ und „Immer ist Herbst“ – es geht hier nicht um eine einlinige Chronologie. Die letzte Zeile des vorangegangenen Gedichts wird in der ersten Zeile des darauffolgenden Gedichts wieder aufgenommen, ein Kreislauf, in dem weder ein einzelnes Individuum vorgesehen ist noch eine selbstbestimmte Frau.

In surreal anmutenden, aber den konkreten Zusammenhang immer aufs Neue akzentuierenden Szenen und Evokationen nehmen die Mädchen mitunter auch die Gestalt eines „Hermelins“ an, das sich dem Jäger ausgesetzt sieht, wie überhaupt Jäger, Angler und Förster aus dem alten Fundus tiefschwarzer Märchen auftreten.

Die „Mädchen ohne Kleider“, so heißt es hier, sagen immer „Ja“ – aber in diesem „Ja“ steckt auch ein Widerhaken, und es ist der Widerhaken des Gedichts selbst: „In geschlossenen Mündern treibt das Ja aus, schießt ins Kraut / Es wickelt sich um fremde Zungen, läuft über in andere Münder / Irgendwann kommt der Tag, da der Förster der Jäger der Angler / Aufwacht und einen Haken spürt in der Zunge“.

Herausragende russische Dichterin

Die 1972 in Moskau geborene Maria Stepanova wird mittlerweile von vielen an erster Stelle genannt, wenn es um herausragende aktuelle russische Dichterinnen geht. Sie hat auch in Deutschland durch ihren Roman „Nach dem Gedächtnis“ 2018 und dem Gedichtband „Der Körper kehrt wieder“ 2019 auf sich aufmerksam gemacht. Der neue auf Deutsch erschienene Band „Mädchen ohne Kleider“ besteht aus drei Gedichtzyk­len, in Russland sind die Zyklen Maria Stepanovas in anderen Zusammenstellungen erschienen.

Aber allgemein gilt jedes Mal das, was sie unter Verweis auf Ossip Mandelstam und mit Blick auf zeitgeschichtliche und kulturelle Zusammenhänge kürzlich geschrieben hat: nämlich dass das Gedicht „schwankend am Rand eines Abgrunds“ stehe, „zwischen Hoffnung und Urteil, Hinrichtung und Rettung“.

Sie findet dafür eine Bilderwelt, die von wenigen, scharf umrissenen Worten ausgeht und ein vielschichtiges Bedeutungsfeld entwickelt. In wenigen Momenten werden postsowjetische Zustände auch konkret benannt, etwa wenn es um „Textilkombinate und Schwarzmarktateliers“ geht oder eine Böschung „zur Wolga“ hin abfällt.

Das Buch

Maria Stepanova: „Mädchen ohne Kleider“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, Berlin 2022, 69 Seiten, 23 Euro

Auch ein Wort wie „Kabuff“, das die skrupulöse Übersetzerin Olga Radetzkaja findet, erzeugt solch eine spezifische Atmosphäre. Aber dass diese postsowjetische Gegenwart in Zeiten der Globalisierung auch die unsere ist, zeigt unter anderem der italienische Stoff, „made in China“, der im zweiten Zyklus des Bandes mit dem Titel „Kleider ohne uns“ auftaucht.

Diese „Kleider ohne uns“ erscheinen wie eine groteske Radikalisierung der „Mädchen ohne Kleider“ vorher: es geht nämlich um die Einsamkeit, um das Weggeworfenwerden, um die Nutzlosigkeit des Abgelegten: „Alles bleibt, alles dient einem Zweck, / Jeder Fetzen Stoff will sich bis zum Schluss nützlich machen, / Sich festhalten an einem warmen menschlichen Körper, / Umhüllen, umfassen, noch nicht verlassen sein“.

Windstill und ohne Wasser

Die Mädchen und die Kleider in diesen Gedichten sind Bestandteile eines aberwitzigen Traumtheaters, das die Realität umso schroffer und greller ausleuchtet. Im letzten Zyklus mit dem Titel „Bist du Luft“, der aus prismenartigen Vierzeilern besteht, finden sich Verse, in denen sich die Poetologie Maria Stepanovas zu verdichten scheint: „Der Fluss war menschenleer / Windstill und ohne Wasser / Ein nackter Hinweis auf Richtung / Nicht dorthin, nur hin“.

Hier ist ein Lebensgefühl eingefangen, das dem postsowjetischen Alltag und den in ihn eingelagerten Traumata entspringt. Aber Maria Stepanovas Texte leben auch von einer alten russischen Tradition, die seit Puschkin die Möglichkeiten literarischer Gegenwelten und Horizontverschiebungen offen hält, mit den Mitteln der Groteske und des Absurden, mit Trauer und sich jeglicher Vernutzung entziehender Poesie.

Ihr neuer deutscher Band, dessen 69 Seiten auch die russischsprachigen Originale enthalten, wirkt schmal. Aber er zeigt exemplarisch, wie eine aktuelle poetische Sprache aus dem Bewusstsein für Zeit- und Literaturgeschichte entsteht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!