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„Sicher wusste keiner von den Menschen, die da runter­gegangen sind, was ihn erwartet“

Das Stück „Treppe ins Ungewisse“ greift die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung durch die Nazis auf

Foto: privat

Heiko Ostendorf

48, Journalist und Kritiker, hat Literaturwissenschaft und Theologie studiert, ist Gründer und künstlerischer Leiter des „Theater Odos“ in Münster.

Interview Hannah Reupert

taz: Herr Ostendorf, wie spricht man über Dinge, über die kaum jemand reden will?

Heiko Ostendorf: Das ist in der Tat schwierig, man spricht darüber, indem man es einfach tut. Indem man versucht, einen Weg zu finden, Dinge zu erzählen, die kaum erzählt werden. Indem man ein Angebot schafft, dass es Menschen ermöglicht, sich mit einem Thema wie diesem auseinanderzusetzen.

Also zum Beispiel, das dann auf die Bühne zu bringen und dort umzusetzen?

Ja. In dem Fall war es ein langer Prozess. Ich habe drei Jahre an diesem Stück gesessen – genau aus dem Grund, um einen Weg zu finden, wie man das auf die Bühne bringen kann. Eine Form zu finden, ist das Schwierigste, man schafft das durch Versuchen. Man schreibt ein Stück, probiert das aus, schaut, ob das funktioniert, und wenn nicht, dann lernt man daraus und versucht einen anderen Weg.

Der Titel „Treppe ins Ungewisse“ bedeutet …?

Zum Beispiel in der Tötungsanstalt Hadamar führte der Weg der Opfer über eine Treppe in den Keller, wo noch mal kurz in die Meldebögen geschaut wurde, ob es auch die richtigen Menschen sind. Dann wurden sie ausgezogen und in einen Duschraum geführt, der sich als Vergasungsraum herausgestellte. Es gab Gerüchte, den Gedanken, dass das Leben zu Ende geht, aber sicher wusste keiner von den Menschen, die da runtergegangen sind, was ihn erwartet.

Wie hat sich die Suche nach Zeitzeugenberichten gestaltet?

Die war anfangs schwierig. Wir hatten Glück, dass wir auf Margret Hamm von der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten gestoßen sind. Mit ihr habe ich sehr gute Gespräche geführt. Sie hat uns viele Interviews, die sie und der Bund über Jahre geführt haben, zur Verfügung gestellt. Dadurch hatten wir einen sehr großen Pool an Zeitzeugenaussagen, die sehr, sehr wertvoll für uns und letztlich auch entscheidend für die Formfindung waren.

Welche aktuellen Fragen wirft das Stück auf?

Eine ganze Reihe! Erstens natürlich, warum das nicht ein so großes politisches Thema ist, wie es vielleicht sein müsste. Zweitens, inwiefern das Denken, dass Menschen „Ballastexistenzen“ sind, also Menschen überhaupt ein Existenzrecht haben, wie sehr dieses Denken heute noch in unserer Gesellschaft verankert ist: Wie viel aus dieser Zeit bis heute erhalten geblieben ist. Und dann natürlich die Frage: Was ist normal? Was bedeutet es, nicht der Vorstellung von Norm zu entsprechen?

„Treppe ins Ungewisse“: Theaterstück über Euthanasie in der NS-Zeit, Do, 16. 6., 19 Uhr, im Museumsquartier MQ4, Lotter Str. 2, Osnabrück. Die Aufführung ist Teil der „Drama Geschichte“ des MQ4

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