: Kampf gegen den eigenen Körper
Essstörungen nehmen zu. Psychotherapien helfen jedoch nicht allen Betroffenen. Ein neuer Therapieansatz ist das Neuro-feedback – ob es wirkt, ist noch unklar
Von Kathrin Burger
Die „Collarbone Challenge“ geht so: Versuche möglichst viele Münzen auf deinem Schlüsselbein zu halten. Je knöchriger dein Körper, desto mehr Münzen wirst du stapeln können. Dies ist nur eines von vielen „Spielen“, das in den sozialen Medien vor allem Mädchen und junge Frauen dazu bringt, sich immer dünner zu hungern. Zwar gibt es die Body-Positivity-Bewegung, die vermitteln will, dass man sich so akzeptiert, wie man ist. Doch leider ist der Selbstoptimierungs- und Schlankheitswahn ungebrochen.
Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und Binge Eating nehmen sogar zu, wie Krankenkassendaten zeigen. Und bei Magersucht werden die Patienten immer jünger: „Es gibt bereits 10- bis 12-Jährige auf der Kinderstation, die lebensgefährlich abgemagert sind“, sagt Beate Herpertz-Dahlmann, Kinder- und Jugendpsychiaterin an der Universität Aachen. In den Pandemiejahren haben Essstörungen weiter zugenommen. Gründe waren etwa Einsamkeit, allgemeine Traurigkeit, fehlende Tagesstruktur sowie mehr familiäre Konflikte.
Essstörungen zählen zu den psychischen Erkrankungen. Sie gehen oft auch mit Angststörungen, Depressionen, Borderline-Störung oder Suchterkrankungen einher. Und sie haben viele verschiedene Ursachen – nur Social Media in die Pflicht zu nehmen, würde die Leiden nur teilweise lindern. Das Problem: Medikamente gibt es nicht. Und die Therapiemöglichkeiten sind beschränkt und helfen auch nicht allen Betroffenen. So können laut der aktuellen Leitlinie für Essstörungen mit den derzeitigen psychotherapeutischen Verfahren nur rund 50 Prozent der Patienten vollständig geheilt werden. 20 Prozent entwickeln sogar eine lebenslange Essstörung.
„Es gibt Essstörungen, die so schwerwiegend sind, dass Therapien nicht helfen, insbesondere, wenn die Essstörungen schon länger bestehen“, sagt Herpertz-Dahlmann. „Zum anderen gibt es in Deutschland viel zu wenig gut ausgebildete Psychotherapeuten. Man braucht viel Wissen und Erfahrung für diese Behandlung.“
Anja Hilbert, Psychologin an der Universität Leipzig arbeitet daran, dass sich die Heilungsraten zumindest für das Binge Eating verbessern. So hat sie kürzlich mit ihrem Team das sogenannte Neurofeedback in einer Pilotstudie bei 39 Menschen mit Binge-Eating-Störung getestet. Die Betroffenen sind meist erwachsen und leiden wie bei der Ess-Brech-Sucht unter unkontrollierbaren Essanfällen, erbrechen sich aber in der Folge nicht. Binge Eater sind darum meist stark übergewichtig und häufiger von Depressionen und Angststörungen betroffen als Gesunde. Etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung leiden darunter – Tendenz steigend.
Warum immer mehr Menschen Unmengen an Essen auf einmal in sich hineinstopfen, teils nachts am Kühlschrank stehend, ist bislang nicht gut erforscht. Wie bei allen Essstörungen spielt häufiges Diäthalten aber auch ein geringes Selbstwertgefühl sowie familiäre Einflüsse eine Rolle, schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Möglicherweise verschärft aber vor allem das große Nahrungsangebot in Industriegesellschaften das Problem. Ein Organismus, der Jahrtausende mit Hunger zu kämpfen hatte, ist nicht auf Überfluss eingestellt, so besagt es die sogenannte „mismatch theory“.
Binge Eating wird derzeit vor allem mit der kognitiven Verhaltenstherapie behandelt. Dabei wird erlerntes Verhalten, das die Essstörung möglicherweise verursacht oder sie aufrechterhält, wieder aktiv „verlernt“. Stattdessen bauen die Patienten neue Verhaltensweisen auf. „Rund jeder zweite Patient hat nach der Psychotherapie keine Essanfälle mehr“, sagt Anja Hilbert. „Die andere Hälfte könnte mit Neurofeedback behandelbar sein.“ Denn eine Verhaltenstherapie ist langwierig und ausführliche Gespräche nicht jedermanns Sache, das Neurofeedback hingegen hat eher etwas Spielerisches und Technisches.
Die Idee zum Neurofeedback kam der Leipziger Wissenschaftlerin, weil Binge-Eating-Patienten Veränderungen im Gehirn zeigen. Über Elektroden auf der Kopfhaut wird elektrische Gehirnaktivität gemessen und grafisch im Elektroenzephalogramm (EEG) dargestellt. Neuronen feuern in unterschiedlichen Frequenzen. Je nach Bereich unterscheidet man vier Frequenzbänder, Alpha-, Beta-, Theta- und Delta-Wellen.
Bei Binge Eatern findet man eher eine hohe Beta-Aktivität und eine niedrige Theta-Aktivität im Vergleich zu Gesunden. Mehr Beta-Wellen sind mit erhöhter Aufmerksamkeit, aber auch mit Unruhe verbunden. Normale Theta-Zustände zeichnen sich durch Entspannung aus – zu geringe Signale sind also ebenso ein Zeichen von Unausgeglichenheit. Diese Besonderheiten im EEG sind typisch für Menschen mit Suchtproblemen.
Mittels Neurofeedback können die Hirnwellen jedoch beeinflusst werden. Das Jahr 1875 gilt als dessen Geburtsstunde, als der britische Mediziner Richard Caton elektrische Aktivitäten in der Schädeldecke von Tieren beobachtete und sie mit mentalen Aktivitäten in Verbindung brachte. Große Aufmerksamkeit erregte die Methode dann 1967, als der US-Wissenschaftler Barry Sterman Katzen trainierte, ihre EEG-Wellen durch Belohnungen zu verändern. In den 70ern folgten Experimente mit Menschen.
Patienten setzen dazu typischerweise Kappen auf, an denen die Elektroden sitzen. Sie messen die Gehirnaktivität und machen sie für den Patienten über einen Computerbildschirm sichtbar. Welche Frequenzbereiche stark oder schwach sind, wird quasi in Echtzeit analysiert und dem Patienten rückgemeldet. So kann er lernen, neuronale Aktivität selbst zu steuern.
In der Leipziger Studie wurden die Patienten dafür mit Bildern konfrontiert, die bei ihnen Essanfälle auslösen, das können Schokolade, Eis oder auch Pommes Frites sein. Dann sahen sie zwei Balken auf dem Bildschirm, die ihre eigenen Gehirnströme darstellten. Die Patienten sollten dann versuchen, diese Gehirnströme mit mentalen Strategien zu beeinflussen. „Das kann Ablenkung sein, sich die Konsequenzen auf der Waage vorzustellen oder rückwärts zu zählen“, berichtet Hilbert.
In der Studie sollten die Probanden zudem selbst üben, etwa indem sie zum Bäcker gehen und dort die für sie hilfreichen Strategien anwenden, um nicht einem weiteren Essanfall zu erliegen. „In unserer Studie reduzierten sich die Essanfälle durch das EEG-Neurofeedback bei allen Patienten um rund 60 Prozent“, sagt Hilbert. „Sorgen um Figur, Gewicht oder das Essen sowie Heißhungerattacken verbesserten sich und blieben stabil über drei Monate hinweg.“
Ähnliche Studien gibt es mit Magersucht-Patientinnen, die auch charakteristisch veränderte Hirnströme zeigen. „Bis eine entsprechende Therapie anerkannt und von der Kasse bezahlt wird, braucht es jedoch noch größere Studien und die sind oft teuer“, sagt Hilbert. Neurofeedback wird teilweise auch bei depressiven Episoden, Angststörungen, ADHS, Schlafstörungen oder Schizophrenie eingesetzt. Laut der Neurowissenschaftlerin Stefanie Enriquez-Geppert von der Universität Groningen gibt es jedoch nur für das ADHS eine Evidenz, dass das Verfahren auch wirkt. Auch in der Therapie von epileptischen Anfällen wird teilweise auf Neurofeedback gesetzt, weil erste Studien die Wirksamkeit nahelegen. In den ADHS-Leitlinien wird das Neurofeedback sogar ausdrücklich empfohlen, vorausgesetzt, dass dadurch eine andere wirkungsvollere Therapie nicht verzögert oder verhindert wird.
In Deutschland ist das Neurofeedback bei Hyperaktivität darum nur im Rahmen einer Psychotherapie Kassenleistung. „Neurofeedbackgeräte sind allerdings nicht ganz billig und die Anwendung erfordert ein gewisses Know-how“, sagt Holger Gevensleben, Kinderpsychologe an der Universität Göttingen. Auch deswegen ist das Verfahren noch nicht weit verbreitet. Allerdings ist der Begriff „Neurofeedback-Trainer“ nicht geschützt, Patienten wissen also oft nicht, ob ein Therapeut seriös ist.
Hauptkritikpunkt ist aber: Man weiß nicht, ob Neurofeedback überhaupt wirkt, also ob nicht alles auf dem Placeboeffekt beruht. Tatsache ist, dass man das Neurofeedback schlecht in den üblichen Studienverfahren testen kann. Doppelt verblindete Studien, bei denen weder der Arzt noch der Patient weiß, welche Behandlung zum Einsatz kommt, sind schwierig zu bewerkstelligen und rar. „Im Psychotherapiebereich gibt es nur maximal einfach verblindete Studien“, sagt Hilbert.
Patienten, die wenig mit Neurofeedback anfangen können, steht noch eine weitere vergleichsweise junge Behandlungsform offen: die Familientherapie. Denn oftmals sind von Essstörungen Personen betroffen, die Traumatisches in ihrer Kindheit erlebt haben.
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