: „Wir machen Musik, und ihr fahrt drauf ab“
RHYTHMUS Tanzen oder weinen, das sind die Angebote, die Sven Regener seinen Zuhörern macht. Der Sänger der Band Element of Crime über Erdbeereis, David Bowie, das alte Westberlin und das neue Album
■ Leben: Sven Regener, Jahrgang 1961, in Bremen geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur Studium der Musikwissenschaften in Hamburg und Berlin. Anfang der Achtzigerjahre ging er nach Westberlin, in den Neunzigern zog er nach Hamburg, kehrte aber im Jahr 2000 zurück nach Berlin.
■ Autor: Seit Jahren macht Regener sich als Buchautor einen Namen. 2001 erschien bei Eichborn sein erster Roman „Herr Lehmann“, 2004 folgte „Neue Vahr Süd“, 2008 „Der kleine Bruder“.
■ Musiker: Regener spielt Gitarre, Trompete und Klavier. 1985 gründete er die Berliner Band Element of Crime mit, die seither zahlreiche sehr erfolgreiche Platten eingespielt hat. Am 18. September kommt bei Universal „Immer da wo du bist bin ich nie“ heraus. www.svenregener.de
INTERVIEW MAURICE SUMMEN
taz: Herr Regener, auf dem neuen Element-of-Crime-Album gibt es den Song „Am Ende denk ich immer nur an dich“. Da wird eine Spielplatzszene mit einem klecksenden Erdbeereis beschrieben. Sind das die Beobachtungen eines Vaters, der zu viel Zeit auf Spielplätzen in Berlin-Prenzlauer Berg verbringt?
Sven Regener: Bei Element of Crime gibt es keine echten Beobachtungen. Wir machen immer zuerst die Musik. Die Chance, dass eine echte Beobachtung in die Lieder hineinfließt – unverfälscht, textlich, sich reimend und dann auch noch genau auf unsere Musik passend –, die ist gleich null. Eher geht das Atomkraftwerk Krümmel in die Luft.
Warum ist das so?
Ich finde es viel schöner, in der Kunst die Wirklichkeit zu dehnen, zu biegen und zu brechen. Wir sind schließlich schöpferisch tätig, wir sind nicht dazu da abzumalen. Aber natürlich: Ich bin kompetent, was das Spielplatzthema angeht. Mehrere Jahre auf Spielplätzen verbracht zu haben, verschafft mir, was dieses Thema angeht, eine gewisse Kernkompetenz. Aber das ist ja gar nicht wichtig, ob ich diese Kompetenz nun habe oder ob das alles einfach erlogen ist. Wichtig ist mir, dass der Hörer das versteht. Dass der Song für ihn funktioniert. Uns wird komischerweise die Fähigkeit, schöpferisch tätig zu sein, immer irgendwie abgesprochen.
Inwiefern?
Es wird einem immer die Frage gestellt, wo denn das reale Vorbild für einen Liedtext ist. Und das würde ja bedeuten, dass man nicht Schöpfer dieser Kunst ist, sondern es nur irgendwo abgemalt hat. Da drüben, das Bild zum Beispiel (zeigt auf eine bemalte Hausfassade) – niemand wird den Maler jemals fragen, wo er das Bild abgemalt hat. Aber uns fragt man das immer: Wo hast du das erlebt? Wann ist das passiert? Schriftsteller und Musiker fragt man das immer.
Sie sind beides, Autor und Musiker. Und offenbar genervt.
Ja, ich empfinde das auf eine gewisse Weise als Kränkung. Weil ich im Grunde reduziert werde auf die Fähigkeiten eines Reporters. Ich bin ja eben nicht nur für eine Reportage gut.
Ist das nicht ein wenig übertrieben, Herr Regener?
Man wird ja noch etwas zuspitzen dürfen.
Selbstverständlich, dafür werden Sie ja geschätzt. Aber es muss doch ein Kompliment für Sie sein, wenn Ihre Songs so stark sind, dass sich Fans an Stationen ihres eigenen Lebens erinnert fühlen.
Ja, es ist ein Kompliment. Aber es ist eine Beleidigung für meine Kreativität, wenn sie deshalb glauben, dass ich es auch genau so erlebt haben muss.
Das haben wir jetzt verstanden.
Mir reicht es einfach, wenn die Leute sich durch die Songs glücklicher fühlen. Es macht mir großen Spaß, meine Texte zu singen (singt): „Warum blutet Mutter aus der Nase?“ Das ist doch herrlich.
Sie sind Familienvater, Romanautor und der Sänger einer Rock-’n’-Roll-Band. Es gibt nicht wenige Menschen, die sich fragen: Wie schafft er das alles?
Immer eins nach dem anderen! Kennen Sie den Film „Zazie in der Metro“ von Louis Malle? Da besucht ein Mädchen mit Namen Zazie ihren Onkel in Paris. Aber dort ist die Metro im Streik. Sie kann sich also nicht frei in der Stadt bewegen und soll zu Hause beim Onkel bleiben. Der hat viele Kinder, und die sollen immer ruhig sein, weil der Onkel tagsüber schläft und nachts arbeiten muss. Und dann stellt sich irgendwann heraus, dass der Vater nachts als Transvestit in einer Bar auftritt und damit seine Familie durchbringt. So in etwa müssen Sie sich auch mein Leben vorstellen. (lacht)
Also ein Doppelleben?
Es gibt von Angela Bowie, der Exfrau von David Bowie, ein Buch über ihre gemeinsame Zeit. Ein schlechtes Buch, aber es gibt eine gute Sache darin: Sie beschreibt das Leben der ganzen Lords der englischen Rockszene, mit denen sie befreundet waren: The Who und wie sie alle heißen. Die lebten alle wie die Wikingerfürsten. Die hatten sich alle so englische Landsitze gekauft und waren das ganze Jahr über damit beschäftigt, in Gummistiefeln die Rosen zu beschneiden, den Garten umzugraben und so weiter. Und einmal im Jahr zogen sie die Gummistiefel aus, die Lederschuhe und -jacken an, zogen raus und legten eine Spur der Verwüstung durch die Welt. Und dann kamen sie wieder zurück in ihr Schloss zur Familie. Dieser Lebensstil hat mich immer sehr beeindruckt. Sehr englisch!
Man darf nur nicht durcheinandergeraten.
Richtig, man muss dabei sehr pragmatisch vorgehen.
Das neue Album klingt wie ein typisches Element-of-Crime-Album. Einzige Ausnahme ist das Titelstück „Immer da, wo du bist, bin ich nie“. Das hört sich wie eine Boogierocknummer an. Wie entstehen solche Lieder?
Das Gute an unseren Platten ist, sie klingen immer nur so spontan. Aber das ist nicht wirklich so. Das ist unser großes Geheimnis. Wir haben sehr viel Kontrolle über das, was wir machen. Wir sind keine Dödel! Wir wissen, was wir wollen, und vor allem wissen wir, was wir nicht wollen: keine sterile Musik. Beim ersten Hören klingen bei Element of Crime immer die groben Signale. Aber nur weil sich dahinter viele subtile Signale verbergen, kann unsere Musik die Zeit überdauern. Das ist das Geheimnis einer Platte, die lange wirkt. Sie muss mehrere Ebenen haben. So wie eine gute Kriegsoffensive mehrere Angriffswellen hat. Erst zum Schluss kommen die Veteranen, die richtig draufhauen. Wie bei den Römern.
Wir reden aber nicht von der Songreihenfolge, sondern von Soundebenen, richtig?
Genau. Man muss auch beim zehnten Mal Hören noch etwas entdecken können. Das ist, was wir wollen. Wir müssen keine Kontrollfreaks dafür sein. Wir müssen es nicht steuern. Es passiert einfach! Ich habe übrigens etwas Angst, dass diese Art von Musik ausstirbt. Tatsache ist doch: Wenn das Geld für solche Aufnahmen einer Band in einem großen Tonstudio nicht mehr da ist, dann wird nur noch zu Hause aufgenommen. Aber zu Hause kann man solche Aufnahmen gar nicht machen.
Man kann den Sound nur noch imitieren?
Ja, die Musik wird auf diese Weise ja auch immer steriler. Da werden wir als Musiker gefragt sein, wie man in der Zukunft mit wenig Geld solche Platten produziert. Die luxuriösen Produktionsmittel der Vergangenheit werden uns nicht mehr zur Verfügung stehen, wenn die Leute eben nicht mehr bereit sind, Geld dafür auszugeben. Das ist natürlich schade.
… dass die Qualität der Musik immer schlechter wird?
Es geht uns tatsächlich darum, den Rock ’n’ Roll zu retten. Das wird mit Samples und Heimrecording nicht gehen. Das sind Simulationen. So was klingt nicht toll und ist nicht glamourös. Das kann höchstens noch über eine „trashige“ Herangehensweise funktionieren. Aber eine, die irgendwie „sexy“ ist. Das wäre dann die Herausforderung.
Aber den Mainstream werden Sie nicht aufhalten können.
Klar, der Mainstreampop wird schmerzfrei und ohne Probleme auf Computern zusammengeschustert werden. Wie in Zahnarztlaboren. Das wird noch schlimm: Das Produktionsniveau, das man heute von der Schlager- und Volksmusik kennt, das wird den kompletten Popmarkt überschwemmen.
Zu viel künstlicher Groove?
Ja, aber es gibt ja Hoffnung. In den USA ist ja die Neofolk-Welle sehr stark: Devendra Banhart, Coco Rosie und so weiter. Folk ist der neue Punk! Am Ende wird die aufregende Musik wieder die von Hand gemachte sein.
Der Rest kommt weiterhin aus den Laboren?
Ja, aber es ist einfach nicht schön, Sex mit einem Automaten zu haben, oder?
Also zurück in die Zeit vor der Plattenindustrie?
Nein, damit hat das nichts zu tun. Es geht hier um Sound, um Entwicklungen und Gegenentwicklungen. Ende der Siebziger gab es mit der Entstehung von Punk ein großes Befreiungsmoment. Die Rockmusik war progrockmäßig so weit verkopft, dass man quasi Musik studiert haben musste, um Rock ’n’ Roll zu spielen. Aber dann kam die Sache mit dem Punk und es hieß: Ihr könnt uns mal! Wir haben drei Akkorde, das reicht, und deshalb machen wir das jetzt mal. Und da denke ich heute eben: Der Folkmusiker ist der neue Punk.
Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass es sich bereits bei Zatopek, Ihrer ersten Band Anfang der Achtzigerjahre, um Postpunk gehandelt hat?
Wenn das kein Postpunk war, was dann? Wir waren damals alle Postpunks. Wir kamen ja genau zu dieser Zeit nach Berlin: Zwischen 1981 und 1985. Die Zeit von No Future, No Wave, No Jazz, Funk Punk …, das ganze Programm.
In einem Fernsehbeitrag über die Westberliner Subkultur von 1983 heißt es: „In den Hinterhöfen haben sich Maler, Musiker, junge Leute aus der ganzen Republik einquartiert, weil sie hier mehr Möglichkeiten zur Selbstentfaltung zu haben glauben.“
„Zu haben glauben“, das ist sehr schön gesagt. Nein, aber es war eine sehr tolle Zeit, natürlich hauptsächlich, weil wir damals noch jung waren! Aber man muss heute sagen: Die erste Hälfte der Achtziger war wirklich gut, die zweite Hälfte war schwierig. In der ersten Hälfte war es einfach eine riesige Aufbruchstimmung: Jeder kann Kunst machen, jeder kann dabei sein, jeder kann eigentlich alles machen. Eine Stunde üben, um im Anschluss danach sofort aufzutreten.
Aber Sie waren keiner von den sogenannten genialen Dilettanten, Sie konnten ordentlich Trompete spielen.
Ja nun, ich habe mit fünfzehn angefangen, dieses Instrument zu erlernen. Ich habe im Spielmannszug des KBW, des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, gespielt. Zatopek war nach dem Spielmannszug meine erste richtige Band. Aber ob ich da gut war? Ich denke mal nicht. War aber auch nicht wahnsinnig wichtig, das waren ja nicht die Philharmoniker.
Es ging direkt mit der Musikerkarriere los: Mit Plattenvertrag, Tour und allem. Das nennt man wohl einen Glücksfall!
Das war tatsächlich der Hammer. Ich kam im Sommer 1982 nach Berlin. Nur wenige Wochen später lernte ich einen Saxofonisten namens Karl Peter kennen, bei einem Vorspiel für eine Reggaeband. Der meinte nur, er kenne ein paar Leute in Neukölln, die würden einen Trompeter suchen, und das waren eben Zatopek. Es hieß nur „Zieh dir einen Anzug an und du kannst mitspielen“. Und dann gleich Plattenvertrag, Aufnahmen, Tournee …
Haben Zatopek mit ihrer experimentellen Musik zwischen Jazz, Punk und Funk auch in der Provinz funktioniert?
Was heißt schon Provinz? Wir hatten eine gut besuchte Tour, hatten Fernsehauftritte und haben auch Platten verkauft. Mein erstes Spex-Interview habe ich damals übrigens auch gegeben. Da kam gleich die Frage: „Warum macht ihr keine politische Musik mit politischen Texten? So wie UB40 und BAP?“ Man glaubt es nicht. Auch das war Spex – 1983: „UB40 und BAP“! Jedenfalls waren Zatopek mein Eintritt in den Rock ’n’ Roll für immer. Ich hatte sofort das Gefühl: Das ist das richtige Leben! Und der Meinung bin ich heute noch. Es ist ein großes Glück, im Rock-’n’-Roll-Geschäft dabei zu sein, denn es ist wirklich das Beste was es gibt. Ein Privileg!
Wie lang ging denn das No-Gewave und No-Gejazze?
Nur bis zum Ende der ersten Tournee. Dann war ich mit der Band zerstritten und bin ausgestiegen. Sie hatten mich um Geld betrogen. Na ja, dachte ich jedenfalls, denn ich war auf jeden Fall ein Riesenarsch. Ich habe immer an allem rumgenörgelt, so die Marke „Scheiß Medien, scheiß Fernsehen“, und trotzdem habe ich bei allem mitgemacht. Geschah mir alles recht! Aber, was soll ich sagen? Es waren super Leute, zu denen ich teilweise heute noch Kontakt habe.
Dann waren Sie Mitglied der Band Neue Liebe, aus der dann Element of Crime hervorging.
Genau, ich habe dann irgendwann gesagt, wir sollten endlich mal aufhören mit diesem Avantgardekram, wo alle immer spontan durcheinanderspielen, und mal lieber richtige Songs schreiben, mit normalen Akkordfolgen und so. Und wir fingen – anfänglich unter Protesten einiger Mitmusiker – damit an. Dann folgte ein großes Umbesetzungskarussell bis 1985, aus dem schließlich der Kern von Element of Crime hervorging.
Wie kam es damals zu dem Gesinnungswechsel von Postpunk zurück zur Musik der 68er? Zurück zur Musik Bob Dylans?
Mit 68 hat das nichts zu tun. Aber tatsächlich: In der ersten Rezension unseres allerersten Element-of-Crime-Konzerts in der taz schrieb damals Thomthom Geigenschrey: „Der Sänger soll mal lieber wieder Trompete spielen und nicht versuchen, Bruce Springsteen und Bob Dylan nachzumachen.“ Dabei ist es im Grunde geblieben (lacht). Der Laden war übrigens rappelvoll, weil zuvor in der taz in einer Ankündigung gestanden hatte: „Neue Band mit Leuten von Neue Liebe und Fehlfarben.“ Uwe Bauer, unser erster Drummer, war vorher Schlagzeuger der Band Fehlfarben gewesen.
Also ist Dylan der Anfang von allem?
Rock ’n’ Roll will never die! Wir machen Musik, und ihr fahrt drauf ab und müsst tanzen oder weinen. So einfach ist das. Darum geht’s.
Eine YouTube-Userin schreibt zur Musik von Element of Crime: „Wunderbar, traurig, aber nicht depressiv. Ein Eiertanz zwischen Melancholie und Kraft.“ Herr Regener, warum machen traurige Lieder die Menschen glücklich?
Weil das das Geheimnis der Kunst ist. Insbesondere der Musik. In der Musik ist das Traurige auch schön. Die Kunst versöhnt uns mit dem Leben. Mit unserer Existenz. Mit unserer Vergänglichkeit und allem … Um die Ramones zu zitieren: „Gabba Gabba Hey!“ Genau das wollen wir – mehr nicht! Da fällt mir ein: Es gab mal ein Interview mit dem Schauspieler Wolfgang Neuss, als er fast schon vergessen war. Das war so eine „Panorama“-Reportage. Er saß wie ein alter Indianer ohne Zähne in seiner Wohnung auf dem Fußboden, kiffte und sagte: „Ihr lieben Linken, eins müsst ihr auch mal verstehen: Egal wofür ihr sonst so steht und kämpft, ihr müsst endlich mal eins kapieren: Das Leben ist auch schön, das Leben ist schön, das Leben ist schön!“ Er blickte in die Kamera und wiederholte das immer wieder und wieder: „Das Leben ist schön!“ Im Grunde wollte man ihn damit vorführen und zeigen, wie fertig der Mann eben sei. Und danach kam auch ein kopfschüttelnder Moderator und missbilligte das. Aber ich saß damals vor dem Fernsehen und dachte nur: „Ja, Wolfgang! Sag’s ihnen! Das Leben ist schön! Das Leben ist schön! Das Leben ist schön!“
■ Maurice Summen, 35, ist Musiker, Vater und Journalist