Kommentar von Barbara Oertel über Russlands Vormarsch auf Kiew
: Düstere Perspektiven

Es sind zum Zeitpunkt des Redak­tions­schlusses wohl nur noch wenige Stunden, bis Kiew an die russischen Truppen fällt und die Ukraine, die der militärischen Übermacht des Nachbarn erwartungsgemäß nichts entgegenzusetzen hat, in die Knie gezwungen wird.

Angesichts der unvermeidlichen Kapitulation sollten die ukrainische Armee und die vielen jungen Freiwilligen, die für die Verteidigung ihrer Heimat zum Äußersten bereit sind, die Waffen strecken. Wozu noch einen sinnlosen Heldentod fürs Vaterland sterben, wo es jetzt darum gehen muss, weitere Opfer zu vermeiden. Davon gibt es auch unter der Zivilbevölkerung mehr als genug.

Der nahende „Endsieg“ Russlands löste auch Russlands Außenminister Sergei Lawrow die Zunge. Plötzlich will Moskau wieder reden – jetzt, da die „Aktion der Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine vor einem erfolgreichen Abschluss steht. Worüber geredet werden soll – nun ja. Doch auch ein möglicher Tatort scheint festzustehen: die belarussische Hauptstadt Minsk. Dort durfte sich Staatschef Alexander Lukaschenko, in Wahrheit ein armseliger Vasall Putins auf Abruf, bekanntlich ja schon 2014/15 als Vermittler international und publikumswirksam in Szene setzen.

Laut Lawrow würden die russischen Truppen die geknechteten Ukrai­ne­r*in­nen von Unterdrückung befreien. Schön wäre es. Tatsächlich fängt die Unterdrückung jetzt erst richtig an. Ein mögliches Szenario wäre, die Regierung in Kiew, alias faschistische Junta, zu stürzen, die nach Moskauer Lesart illegitimerweise im Amt ist. Das dürfte in einem Handstreich zu erledigen sein.

Bevorzugtes Hassobjekt dabei ist Präsident Wolodimir Selenski, der das Problem hat, durch freie und faire Wahlen im Jahr 2019 auf seinen Posten gekommen zu sein. Er kann froh sein, wenn er jetzt mit seinem Leben davonkommt. Dem dürfte die Inthronisierung eines moskautreuen Statthalters folgen, der keine Widerworte gibt und sich von europäischen und euroatlantischen Ambitionen endgültig verabschiedet.

Aber vielleicht darf Selenski auch noch ein bisschen weiterregieren, sollte Moskau der Meinung sein, ihm (mit Waffengewalt) das Rückgrat gebrochen zu haben.

Doch was wird aus den Ukrainer*innen, über die Russlands Kriegszug unermessliches Leid gebracht hat? Besonders Ver­tre­te­r*in­nen jüngerer Generationen, die die Orange Revolution 2004 und/oder die „Revolution der Würde“ 2013/14 miterlebt haben, wissen, was es bedeutet, ein Stück Freiheit zu atmen. Sie werden sich dem Moskauer Diktat nicht kampflos ergeben. Wladimir Putin mag die Uhren zurückdrehen wollen. Doch in der Ukraine ist es dafür schon längst zu spät.

krieg in der ukraine 3,