Eine Übung in Verzicht: Das Leben zum Alter hin

Was tut ihr mit eurem Leben, um im Alter mehr zu sein als nur eine welke Blüte? Der Ethikrat schlägt Askese vor.

Ein Backblech voller Kekse

So vom Askesestandpunkt gesehen eine wirkliche Versuchung Foto: Hendrik Schmidt/ dpa

Kürzlich suchte ich in einem Supermarkt Schutz vor dem Regen, als ich vor dem Keksregal auf den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Ratsvorsitzende legte gerade drei Keksschachteln in einen Einkaufswagen, während sich die beiden anderen Ratsmitglieder dem benachbarten Schokoladenregal zuwandten.

„Guten Tag, Frau Gräff“, sagte der Vorsitzende heiter, während er nach einer Schachtel mit Florentinern griff, „wir haben Sie eine Weile nicht gesehen“. „Nun“, sagte ich unbestimmt und dachte, dass das nicht an mir lag, sondern an der Unwilligkeit des Rats, so etwas Banales wie Sprechstunden einzurichten. „Planen Sie ein Fest?“, fragte ich ausweichend und deutete auf die Keksschachteln. „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende, „wir bereiten eine praktische Übung zu Epiktets Askesekonzept vor.“

„Ist das nicht auch mit der Idee von Verzicht verbunden?“, fragte ich misstrauisch. „Natürlich“, antwortete der Ratsvorsitzende, „wir haben uns dazu entschieden, eine Woche lang eckige Süßwaren zu meiden“, und er wies zufrieden auf eine Auswahl von Cookies und Doppelkeksen.

„Könnte ich an der Übung teilnehmen?“, fragte ich, aber der Vorsitzende schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider ist es eine Veranstaltung, die dem Lehrkörper vorbehalten ist.“

Schokotrüffel im Wagen

Die beiden anderen Ratsmitglieder erschienen und warfen Schokoladentrüffel in den Wagen. „Können wir Ihnen bei einer anderen Frage weiterhelfen?“, fragte der Ratsvorsitzende. Ich zögerte. Ich hatte das Wochenende in einem Kloster verbracht und dort in einem Buch des Gründers gelesen. „Was tut ihr mit Eurem Leben, um im Alter mehr zu sein als nur eine welke Blüte?“, hieß es darin, und ich hatte keine Antwort gewusst. In der folgenden Woche zerfielen mein Knie und mein Rücken ebenso wie meine Vorsätze, meiner irrlichternden religiösen Suche so etwas wie ein Fundament zu geben.

Der Rat schob seinen Einkaufswagen in Richtung Kasse und ich folgte ihm schweigend. „Nun?“, fragte der Ratsvorsitzende. Ich war alt, aber der Rat war noch älter, und auch wenn der Rahmen mäßig geeignet schien, hatte ich niemand anderen, um ihm meine Sorge vorzulegen. „Muss die Bilanz des Alters nicht mehr sein als eine Liste von Irrtümern und irrelevanten Erfolgen, die mit den Jahren eben länger wird?“, fragte ich. „Ich meine, das ist jetzt eine sehr private Frage, aber haben Sie den Eindruck, in den wesentlichen Fragen vorangekommen zu sein?“

Mein Knie muckte und ich blieb stehen. „Aber vielleicht bin ich auch nur geistiges Opfer einer Zeit, in der körperliche Autonomie als höchstes Gut gehandelt wird“, murmelte ich. Der Ratsvorsitzende betrachtete mich mit einem vage mitleidigen Ausdruck. „Die Freiheit von Furcht …“, begann er, aber da unterbrach ihn eines der beiden anderen Ratsmitglieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Ratsvorsitzende runzelte die Stirn. Dann wandte er sich an mich. „Vielleicht ist dies der Moment, Sie stärker in unsere Arbeit einzubinden“, sagte er, und ich empfand mehr Stolz als mit dem Gebot philosophischen Gleichmuts vereinbar.

„Kommen Sie“, sagte der Rat, und ich folgte ihm an der Kassenschlange vorbei zu einer Holzbude neben dem Eingang des Supermarkts. Darin lag ein Strohsack mit einer fadenscheinigen Decke und daneben stand auf einem Schild in schön geschwungener Schreibschrift: „Szenen aus dem Leben großer Philosophinnen und Philosophen – Heute: Epiktet“. „Sicher ist Ihnen bekannt, mit welcher Gelassenheit Epiktet der Verstümmelung seines Beines begegnet ist“, sagte der Ratsvorsitzende. „ Wir freuen uns darauf, Sie auf seinen Spuren zu sehen.“

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