„Über Hanau ist zu wenig diskutiert worden“

Mit einer Diskussion erinnert der Bremer Rat für Integration an die Morde

Foto: Nergiz

Deniz Nergiz

39, Soziologin, Promotion 2014 mit der Studie „I long for nomality“ über die Erfahrung deutscher Abgeordneter mit migrantischem Erbe, ist Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrations­rates (BZI).

Interview Teresa Wolny

taz: Frau Nergiz, hat sich die Haltung von Staat und Gesellschaft gegenüber Rassismus und Rechts­terrorismus seit dem Anschlag in Hanau verändert?

Deniz Nergiz: Es hat sich insofern etwas verändert, dass diese Themen öffentlich wie politisch mehr ins Zentrum gerückt sind und einige gesetzliche Änderungen bewirkt haben. Durch die Pandemiesituation wurde eine ausführliche Aufarbeitung des Anschlags allerdings verhindert. Die politische Debatte hat sich sehr stark auf die Pandemiebekämpfung konzentriert, über Hanau ist viel zu wenig diskutiert worden.

Wie bewerten Sie, was seitdem unternommen wurde?

Zum Teil sind wichtige und richtige Schritte gemacht worden. Die Empfehlungen des Bundes­kabinettsausschusses gegen Rechtsextremismus sind positiv zu bewerten. Leider sehen wir aber immer noch nicht, dass die Maßnahmen wirklich einschlagen. Obwohl etwa das Recht zum privaten Waffenbesitz verschärft wurde, hat die Bundesregierung selbst eingeräumt, dass der Waffenbesitz im rechtsradikalen Milieu um 30 Prozent zugenommen hat. Die Bilanz ist also zwiegespalten und in der Politik bleiben noch sehr viele Hausaufgaben übrig.

Zum Beispiel?

Als BZI haben wir schon 2018 die Forderung gestellt, dass im Bundestag eine Enquetekommission eingesetzt werden muss, die sich mit strukturellem Rassismus und Rechtsextremismus auseinandersetzt. So eine Kommission oder, noch besser, einen Fachausschuss gibt es bis heute nicht. Auch von einer stärkeren Einbindung der Betroffenenperspektive sind wir noch weit entfernt.

Wie sähe eine solche Einbindung aus?

„Erinnern heißt verändern“: Podiumsdiskussion zum Jahrestag der Morde von Hanau, mit Daniel de Olano (Köfte Kosher), Deniz Nergiz (BZI) und Alessan­dra Schädel (Landesamt für Verfassungsschutz), moderiert von taz-Redakteur Benno Schirrmeister Aufzeichnung, online ab 19. 2. auf www.bremer-rat-fuer-integration.de

Die Behörden müssen Rassismus und Rechtsextremismus als Motiv stärker berücksichtigen. Dass das nicht passiert, hat die bisherige Abwehr gegen eine Studie zum Rassismus bei der Polizei gezeigt. Ein anderes Beispiel ist der aktuelle Fall von Dilan Sözeri, die in Berlin aus rassistischen Motiven verprügelt wurde. In der Pressemitteilung der Polizei wurde von einem Konflikt über das Tragen der Maske geschrieben. Das stimmte nicht, aber selbst wenn sie ihre Maske nicht getragen hätte, wäre die Frage angebracht, warum ausgerechnet eine Frau angegriffen wurde, die als typisch fremd gelesen wird.

Wie vermittelt man Menschen ein Bewusstsein von Diskriminierung, die selbst nicht betroffen sind?

Antirassismus sollte von Beginn an Pflichtfach sein. Nur wenn Menschen mit diesem Bewusstsein aufwachsen, können sie die gesellschaftliche Situation später evaluieren. Außerdem ist es wichtig, die Thematik auch in den Ausbildungen der Justiz, Verwaltung und an Polizeischulen fest zu verankern – und zwar nicht nur als zweitägige freiwillige Fortbildung. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es wichtig, dass Gewalttaten wie die in Hanau Teil der kollektiven Erinnerung werden. Hanau und andere Gewalttaten müssen als Gesamtkonzept gesehen und gemeinsam aufgearbeitet werden. Der BZI fordert in diesem Sinne die Einführung des 19. Februars als Gedenktag für Rassismusopfer in Deutschland.