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Mündliche Prüfung? Zumutung!

In Österreich sollen die Abschlussprüfungen wieder wie vor der Pandemie stattfinden. Manche Schülerinnen und Schüler gehen dafür nun die zweite Woche in Folge auf die Straße. Doch der neue Bildungsminister Polaschek hat an den Schulen auch Verbündete

Aus Wien Ralf Leonhard

Faire Matura für uns“. Mit diesem Transparent marschierten vergangenen Dienstag Hunderte Schülerinnen und Schüler über die Wiener Ringstraße und durch mehrere Städte in den Bundesländern. Matura, das ist in Österreich die Reifeprüfung am Ende der Sekundarschule, das Pendant zum deutschen Abitur. Die dazugehörigen Prüfungen sollen dieses Jahr wieder wie in Vor-Corona-Zeiten ablaufen. Das heißt, mit einem schriftlichen Teil in den Pflichtfächern und einem mündlichen Teil in mindestens zwei Wahlfächern.

So will es der neue Bildungsminister Martin Polaschek. Seit Mitte Dezember ist er erst im Amt. Dank seiner wehenden Mähne sieht er aus wie ein jung gebliebener Altachtundsechziger – nominiert wurde er aber von der konservativen ÖVP, die bei Bildungsreformen seit Jahrzehnten auf der Bremse steht. Gegen Polascheks Pläne zur Matura regt sich nun Widerstand.

100 Schulsprecher unterschreiben offenen Brief

In einem offenen Brief, der von der SPÖ-nahen Aktion kritischer Schüler_innen (aks) und Schulsprechern von rund 100 Gymnasien (von insgesamt 700) unterzeichnet wurde, fordern die angehenden Maturantinnen und Maturanten unter anderem Freiwilligkeit bei der mündlichen Prüfung und der Präsentation einer vorwissenschaftlichen Arbeit. Außerdem „die Kürzung von Themenpools für die schriftliche Matura um 30 Prozent“ und „ein klares Nein zur geplanten Durchseuchung von Kindern und Jugendlichen“.

Angesichts der Wucht der Omikron-Welle, so der Vorwurf, setze die Regierung zunehmend auf „Durchseuchung“, also die Immunisierung der ungeimpften Bevölkerung durch Ansteckung. Gleichwohl gilt ab dem 1. Februar die allgemeine Impfpflicht für Erwachsene. Nicht zuletzt wünschen sich die Unterzeichner des offenen Briefs: Das schulpsychologische Personal soll wegen der psychischen Belastung aufgestockt und ein „öffentlicher Diskurs über Maßnahmen für unsere psychische Gesundheit“ geführt werden.

In den vergangenen zwei Jahren hatte der damalige Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) die mündliche Matura optional gestellt. Außerdem wurde die Jahresnote für das Maturazeugnis berücksichtigt. Wer das Jahr positiv abgeschlossen hatte, konnte praktisch nicht mehr durchfallen. Wer keinen Wert auf eine gute Note legte, konnte sich das Lernen für die Reifeprüfung also sparen. Mündlich angetreten sind nur diejenigen, die ihre Noten verbessern wollten oder sich vor der Kommission sicherer fühlten als bei der schriftlichen Zentralmatura. Und das waren, wie Lehrer berichten, sehr wenige.

Seit Beginn der Pandemie wechsele sich ihr Unterricht zwischen Distance Learning und Anwesenheit ab, klagt die Schülerin Viviane Negeli aus Linz in einem Bericht des linksliberalen Momentum Instituts über den ersten Schülerstreik. „Bis Ende Mai sind wir zu Hause geblieben, dann hatten wir Schichtbetrieb“, erinnert sich Negeli. Im zweiten Corona-Schuljahr dann gab es erst Präsenzunterricht, nach den Herbstferien Distanzunterricht, dann erneuter Schichtbetrieb. „Auch heuer, in meinem Maturajahr, waren wir im Dezember wieder im Distance Learning. Jetzt gerade müsste ich eigentlich in der Schule sein. Aber in meiner Klasse gibt es mehrere positive Fälle, deswegen bin ich schon wieder daheim.“

Schulstreiks in Deutschland und Frankreich

Frankreich

Am 13. Januar haben in ganz Frankreich zahlreiche Lehrer*innen die Arbeit niedergelegt, um gegen die Arbeitsbedingungen in der Pandemie zu protestieren. Am Donnerstag wollen die Gewerkschaften nun mit einem weiteren Aktionstag nachlegen. Der zuständige Minister, Jean-Michel Blanquer, hat zwar eine Lockerung der Pandemievorschriften versprochen, außerdem die Lieferung von fünf Millionen Schutzmasken. Das ist den Gewerkschaften aber nicht genug. In Frankreich blieben die Schulen trotz stark steigender Infektionszahlen geöffnet, die mehrfach geänderten Bestimmungen hinsichtlich Masken und Tests haben laut Elternorganisationen zu „chaotischen“ Situationen geführt.

Deutschland

Mit Ausnahme der Hagener Realschülerin Yasmin, die sich aus Angst vor ungeimpften Mitschüler*innen weigerte, am Präsenzunterricht teilzunehmen (sie lernte zunächst auf dem Schulhof und nun in einem eigenen Raum), kam es hierzulande bislang zu keinen pandemiebedingten Streiks. Am Samstag demonstrierten in mehreren Städten überwiegend Eltern und Pädagog*innen gegen die Präsenzpflicht an Schulen. (rb, rpa)

In den oberen Klassen müssen seit Monaten FFP2-Masken getragen werden. Von einem normalen Schulalltag kann also seit fast zwei Jahren keine Rede sein. Die psychische Belastung an den Schulen ist enorm. Das erzeuge, so meinen manche Lehrer, Unsicherheit. Trotzdem soll die Matura nun wieder wie in früheren Zeiten ablaufen. Bei den streikenden Schülerinnen und Schülern stößt das auf große Unverständnis.

Bildungsminister Polaschek zeigt zwar Verständnis für einige Forderungen: „Mir ist bewusst, dass die Auswirkungen der Pandemie noch spürbar sind, und darüber habe ich auch mit der Schülervertretung gesprochen. Daher haben wir dieses Jahr eine Vielzahl an Erleichterungen bei der Matura geschaffen. So werden die Themenbereiche eingeschränkt und Fristen verlängert.“

An der verpflichtenden mündlichen Matura will er aber festhalten. Er weiß auch die Bundesschulsprecherin Susanne Öllinger hinter sich, die der ÖVP-nahen Schülerunion angehört. Auf Anfrage der taz teilt diese mit: „Grundsätzlich ist die mündliche Matura auch ein wichtiger Bestandteil der Reifeprüfung, gerade in Vorbereitung auf das spätere Leben, da hier die mündliche Kompetenz abgefragt wird.“

Und auch Claudia Plakolm, die jüngst bestellte Staatssekretärin für die Jugend (ÖVP), ist stramm auf Parteilinie. Die 27-jährige ehemalige Vorsitzende der Jungen ÖVP argumentiert, dass auch 50.000 Lehrlinge ihre Abschlussprüfungen mündlich ablegen müssten und auch in den vergangenen Jahren abgelegt haben. Das müsse den 40.000 Maturanten auch zuzumuten sein.

Mati Randow, Schulsprecher eines Gymnasiums in Wien, widerspricht. Nach einem TV-Interview Plakolms hätten ihn mehrere Lehrlinge angerufen: „Es stimmt nicht, dass sie keine Erleichterungen bekommen hätten.“ Der 17-jährige Randow, der selbst im Mai seine Matura ablegen muss, ist im freiwilligen Fernunterricht. Corona-bedingt ist es Schülerinnen und Schülern freigestellt, ob sie in die Schule gehen oder zu Hause lernen. Zwar seien an seiner Schule in der Oberstufe 95 Prozent geimpft, doch seit der Omikron-Welle steige auch dort die Anzahl der Infizierten. Letzte Woche waren es zehn, jetzt seien es bereits 24.

„Mir ist bewusst, dass die Auswirkungen der Pandemie noch spürbar sind“

Martin Polaschek, Bildungsminister

Randow will kein Risiko eingehen. Bei den Fünf- bis 14-Jährigen betrage die 7-Tage-Inzidenz in Österreich derzeit 5.000: „Das heißt, jedes zwanzigste Kind ist angesteckt.“ Randow glaubt auch, dass die Jugendstaatssekretärin „ihre Aufgabe falsch versteht. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Position der Regierung gegenüber den jungen Menschen zu vertreten, sondern unsere gegenüber der Regierung zu vertreten.“ Mit dem protestierenden Maturajahrgang solidarisiert sich auch Heidi Schrodt, pensionierte Gymnasialdirektorin und Vorsitzende der Initiative Bildung Grenzenlos: „Sorry, das ist völlig vorbei an der Realität der gymnasialen Oberstufe. Wer meint, in 4 Monaten seien die Versäumnisse von mehr als 2 Jahren aufgeholt, weiß nichts.“

Die sozialdemokratische aks hat für den heutigen Mittwoch zu einer erneuten Demonstration aufgerufen. Mati Randow, der keiner politischen Fraktion angehört, wird sich dem aber nicht anschließen. Die Ansteckungsgefahr sei zu groß, teilte der Schülervertreter bereits mit. Nichts wissen von Streiks und Demonstrationen will auch die konservative Schülerunion. Bundesschulsprecherin Susanne Öllinger wolle vielmehr „auf direkten Austausch mit dem Ministerium“ setzen, wie sie es formuliert.

Wolfgang Schweiger, Religions- und Spanischlehrer in Wien, hält den Konflikt für einen politischen Schlagabtausch zwischen linker aks und rechter Schülerunion. Die Sozialdemokraten würden die Matura insgesamt abschaffen wollen, die Konservativen seien vom Elitedenken gesteuert. Dass die Schülerinnen und Schüler durch die mündliche Prüfung überfordert seien, kann er sich nicht vorstellen. Er glaubt, dass sie sich vielmehr die Möglichkeit nähmen, sich im geschützten Rahmen auf die Uni vorzubereiten.

Zwar stehe er selbst eher links, so Schweiger, in diesem Fall habe er aber kein Verständnis für die Proteste. Bei der mündlichen Matura falle ohnehin fast niemand mehr durch: Sie ist „ein netter Abschluss der Schulzeit“.

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